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Erst der Tod von Cormac McCarthy am 13. Juni 2023, kurz vor seinem 90. Geburtstag, hat mich veranlasst, erstmals ein Buch dieses großen amerikanischen Autors zur Hand zu nehmen. Und weil von Die Straße eine so große Faszination ausging, habe ich unmittelbar danach einen weiteren Roman von ihm gelesen, Ein Kind Gottes. Die Lektüre im Doppelpack machte viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken deutlich: Hier wie dort ist der Stoff hammerhart. McCarthy entwirft in einer messerscharfen Sprache grausame Lebenswelten. Doch was äußerlich rau und kühl wirkt, ist keineswegs so gnadenlos, wie es scheint. McCarthy lässt unsentimental ein tiefes Erbarmen durchscheinen mit diesen Menschenkindern, die seine Figuren sind. Diese Kunst hat er in der Zeit zwischen Ein Kind Gottes (erstmals veröffentlicht 1973) und Die Straße (2006) offensichtlich weiter verfeinert und perfektioniert. Letzterer Roman rührt für mich noch stärker an existenziellen Fragen und hat mich am Ende sehr berührt.

Ein Kind Gottes: Portrait eines Ausgestoßenen

In dem früheren Roman Ein Kind Gottes geht Cormac McCarthy an den äußersten Rand der Gesellschaft und wendet sich einem Ausgestoßenen zu. Lester Ballard beginnt, nun ja, als komischer Kauz, eine geistig scheinbar eingeschränkte, asoziale im Sinne von außerhalb der Gemeinschaft und ihrer Konventionen stehende Existenz. Sofern andere Menschen ihn überhaupt wahrnehmen, dann als Gegenstand misstrauischer Beobachtung durch die Obrigkeit – repräsentiert von Sheriff – oder kopfschüttelnder Erzählungen über seine Absonderlichkeit mit offensichtlicher Tendenz zur Brutalität.

Wir befinden uns im ländlichen Tennessee der 1960er-Jahre, einer Welt, die sich in McCarthys Schilderung auch innerhalb der „etablierten“ Gesellschaft nicht eben durch eine Verfeinerung der Sitten oder große Empathie auszeichnet. Grobschlächtige Alpha-Männer geben hier den Ton an, ein rücksichtloser Kapitalismus dominiert, die soziale Verwahrlosung lauert an jeder Ecke. Dort, wo sie am ungeschöntesten sichtbar wird, wie beim Betreiber einer Müllhalde mit seinen zahlreichen „unmoralischen“ Töchtern, findet Ballard noch am ehesten losen Anschluss.

Der Roman zeichnet nach, wie Ballard immer weiter ins Abseits gerät, sich immer weiter weg von einer bürgerlichen Existenz bewegt, beginnend damit, dass die verkommene Farm, auf der er lebt, zwangsversteigert wird. Sein Abstieg führt ihn über das Leben in einer rudimentären Hütte im Wald bis zum primitiven Hausen in einer Höhle. McCarthy beobachtet ihn kühl-distanziert in Verhaltensweisen, die den Leser vor den Kopf stoßen, ja abstoßen. Der Erzähler aber wertet nicht, während sich das Geschilderte bis an die Grenze des Unerträglichen steigert. Ballard wird schließlich zum Serienmörder junger Frauen und vergeht sich an deren Leichen.

Leichenschänder als Produkt der Gesellschaft

Widerlich und verurteilenswert, diese Gestalt. Eigentlich. McCarthy heischt auch keineswegs nach Mitleid oder Verständnis für seine Hauptfigur. In einem kurzen Absatz erfahren wir quasi nebenbei, dass Lester als Kind den Vater durch Selbstmord verloren hat. Diese punktuelle Information reicht, um klar zu machen, dass es für alles einen Grund gibt.

Und irgendwie schafft es McCarthy, dass wir trotz allem mit diesem zutiefst einsamen Individuum fühlen, mit ihm bangen, wenn es auf zunehmend primitivem Niveau mit der existenziellen Feindseligkeit der Natur kämpft, mit Hitze, Kälte, Feuer und Überflutung. Vor allem aber steht man auf seiner Seite, wenn es mit den Angriffen empathieloser „Mitmenschen“ – ja, das muss man hier in Anführungsstriche setzen – konfrontiert ist, die ihm nie eine Chance gegeben haben, sondern ihn in gnadenlosem Materialismus auf den Müllhaufen geworfen haben.

Lester Ballard ist nichts anderes als ein Produkt, das eine abgestumpfte Gesellschaft hervorgebracht hat, um es anschließend vernichten zu können. Dafür findet McCarthy in seiner kargen Erzählweise immer wieder Bilder, die tief schürfen. An einer Schlüsselstelle, an der Ballard mit seinen schmutzigen Habseligkeiten während einer Überschwemmung von einem reißenden Fluss mitgerissen wird, heißt es:

Er konnte nicht schwimmen, aber wie wollte man ihn ertränken? Sein Zorn schien ihn über Wasser zu halten. Hier scheint es ein Innehalten im Ablauf der Dinge zu geben. Seht ihn Euch an. Man könnte sagen, er wird von seinen Mitmenschen getragen, wie man selbst. Hat das Ufer mit ihnen bevölkert, die ihn rufen. Ein Geschlecht, das die Versehrten und Verrückten säugt, das ihr falsches Blut in seiner Geschichte will und auch bekommen wird. Aber sie trachten diesem Mann nach dem Leben. Er hat sie in der Nacht gehört, wie sie mit Laternen und Verwünschungen nach ihm suchten. Wovon also wird er oben gehalten? Oder vielmehr, warum verschlingen diese Wasser ihn nicht?

Seite 150 f.

Die religiöse Anmutung des Titels Ein Kind Gottes ist sicher kein Zufall. In der Art, wie McCarthy sich hier einem Subjekt am äußersten sozialen wie moralischen Rand zuwendet, sehe ich einen tief christlichen Ansatz. Jesus richtete den Blick mehr als einmal auf sogenannte Sünder und Verachtete, von der Dirne Maria Magdalena bis zum Zöllner Zachäus. McCarthy geht in seinem Roman bis an Extreme, um von dort ins Innerste des menschlichen Daseins zu gelangen. So animalisch er sich auch verhält, bleibt Lester Ballard ein Mensch. Wie McCarthy das schafft, ohne zu psychologisieren, ohne zu entschuldigen und ohne um Verständnis zu werben, einfach durch einen klaren, lakonischen Blick, ist große Kunst.

Die Straße: Welt nach der Apokalypse

Einen Bezug zum Christentum hat die Literaturkritik auch bei McCarthys späterem Roman Die Straße hergestellt. Experten haben Zitate aus dem Alten Testament erkannt sowie eine Parallele zum Buch Exodus. Auch ohne tiefere Bibelkenntnisse lässt sich jedenfalls sagen, dass der Roman uns in eine Welt nach einer Katastrophe biblischen Ausmaßes, nach der Apokalypse, führt. Schilderte McCarthy in Ein Kind Gottes den äußersten Rand der Gesellschaft, führt er uns nun an den äußersten Rand der Geschichte. Und hier wie dort stellt der Autor die Frage, was unter extremen Bedingungen noch übrig bleibt an einem Kern von Menschlichkeit.

Die Straße, das ist ein Weg – vielleicht war es mal ein Highway -, den ein Vater mit seinem vielleicht zehn Jahren alten Sohn durch eine verwüstete Landschaft entlanggeht. Was auch immer passiert sein mag, es hat dazu geführt, dass sich die Welt in eine einzige verkohlte, düstere, kalte, grau-schwarze Landschaft unter dichten Aschewolken verwandelt hat. „Der Mann“ und „der Junge“, wie die namenlosen Figuren im Roman bezeichnet werden, haben vage das Ziel, „den Süden“ zu erreichen, in der Hoffnung, irgendwo etwas weniger lebensfeindliche Bedingungen zu finden.

Nur wenige Menschen haben überlebt. Und unter denen herrscht nun ein gnadenloser Kampf ums Überleben und die letzten Ressourcen. Dazu zählen Nahrungsmittelvorräte, die eventuell noch in einem der verlassenen Häuser zu finden sind. Darüber hinaus greift der Kannibalismus um sich. Jede Begegnung mit anderen Menschen birgt somit eine tödliche Gefahr.

Nie hatte das Wort „Okay“ so große Bedeutung

In kühler, knapper, exakter Sprache beschreibt McCarthy Landstriche und Ruinen, Geisterstädte , Wälder, Boote oder Keller, die Vater und Sohn auf der Suche nach Essbarem und in Angst vor Feinden durchstreifen. Das ist mitunter (bewusst) monoton, sehr düster und mit gelegentlichen Schockmomenten versehen.

So präzise McCarthy die äußeren Gegebenheiten wiedergibt, so wenig formuliert er die Gefühlswelten der beiden Figuren aus. Die werden deutlich durch die knappen, lakonischen und dadurch äußerst eindringlichen Dialoge der beiden. Das vermeintlich banale Wort „Okay“, das der Junge häufig gegenüber seinem Vater wiederholt, hat in der Literatur wohl nie so viel Bedeutung getragen wie hier. Es drückt das Urvertrauen des Kindes aus wie auch seine Schicksalsergebenheit, Zuversicht wie Zweifel und eine unverbrüchliche Gemeinschaft. Das macht Gänsehaut.

In einer feindlichen Umgebung, die den Menschen eigentlich auf den puren animalischen Überlebensinstinkt reduziert, stehen Vater und Sohn für das Bewahren des Kerns dessen, was Menschlichkeit bedeutet: Solidarität, Fürsorge, Verzeihen zum Beispiel. Im Kontext dieses Szenarios hat es allein schon eine große Wucht, wenn der Junge mit irgendeinem vorgefundenen Gegenstand spielt. Er hat sich die Fähigkeit zur Fantasie bewahrt und dazu, einer Tätigkeit nachzugehen, die nicht dem unmittelbarem Überleben dient.

Unmerklich verschiebt der Roman dabei das Gefüge zwischen den beiden Figuren. Anfangs sehen wir ein Kind, das auf die Führung durch den Vater angewiesen ist. Doch mit der Zeit ist es der Junge, der an Größe gewinnt, indem er ein Wertegerüst durch dieses Jeder-gegen-jeden rettet. Er wiederholt gebetsmühlenartig die Überzeugung, er und sein Vater seien „die Guten“, hält also an einer moralischen Kategorie fest. Und der Junge lässt seinen Urinstinkt des Menschen als soziales Wesen zu, will mit anderen in Kontakt treten, teilen, sich um einen Hund oder ein verlassenes Kind kümmern. Das verleiht ihm Größe.

Größe und Tiefe wohnen beiden McCarthy-Romanen inne, die ich gelesen habe. Er erreicht sie, indem er alles Überflüssige abstreift, um zum Kern der Dinge vorzudringen. Das ist ungemütlich bis schmerzhaft und gibt trotzdem Hoffnung.

  • Cormac McCarthy, Ein Kind Gottes, Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Rowohlt Taschenbuch, 192 Seiten, 14 Euro.
  • Cormac McCarthy, Die Straße, Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Rowohlt Taschenbuch, 256 Seiten, 15 Euro.

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