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Ein Thriller, eine Hardboiled novel, eine fantastische Erzählung, ein düsteres Endzeitszenario? Ein existenzialistischer Roman über die Einsamkeit oder eine sentimentale Gangster-Elegie? Irgendwo dazwischen bewegt sich der Roman Der Dieb von Fuminori Nakamura, und doch passt kein Etikett so richtig. Fest steht für mich, dass es sich um große Kunst handelt. Der Dieb hat mich auf unerwartete Art gepackt und berührt.

Der Dieb, dessen Name der Leser nicht erfährt, ist der Ich-Erzähler dieser Geschichte, die in Tokyo angesiedelt ist. Oder sollte man sagen, in einem Parallel-Tokyo? Die Schauplätze sind realistisch, und so mancher Beutezug des Taschendiebs durch U-Bahnen und Einkaufscenter ist ohne Zweifel wirklichkeitsnah. Und doch ist dieses Tokyo einen Schritt weit entrückt von der Realität. Der Roman führt in ein Milieu, von dem man als Normalbürger nichts wahrnimmt. Man könnte ganz klassisch von „Unterwelt“ sprechen. Eine Welt, in der ganz andere die Strippen ziehen als die, die wir im hellen Tageslicht sehen; in der andere Gesetze, andere Arten von persönlichen Bindungen gelten – oder eben keine.

Hier bewegt sich der Ich-Erzähler scheinbar wie ein Fisch im Wasser durch die Menschenmassen, zieht Passanten mit atemberaubender Geschicklichkeit die Geldbörsen und Handys aus den Taschen. Als Leser fiebert man mit. Denn – man muss es so sagen – so mancher der Bestohlenen hat es nicht anders verdient oder wird das Fehlen des einen oder anderen Scheinchens im Portmonee gar nicht registrieren.

Fuminoris Protagonist hat etwas von einem Robin Hood und ist doch kein Held, sondern ein moralisch ambivalenter, einsamer, gebrochener Großstadt-Cowboy, der ganz offenbar seine Traumata und Geheimnisse mit sich herumschleppt. Den warmen Schauer beim Griff nach der Beute braucht er, um die tiefe Trauer in seinem Inneren und seine Verlorenheit in der Welt für einem Moment zu übertünchen. Die meisten seiner Verluste bleiben ungesagt oder werden nur angedeutet. Diese Ahnungen fügen dem Roman mit seiner äußerlich „harten“ Handlung eine sanft-verschwommene, geheimnisvolle Dimension hinzu.

„Hart“ wird es insofern, als der lange Arm eines Unterwelt-Bosses nach unserem Ich-Erzähler greift. Und diesem finsteren Baron ist es um ganz andere Machenschaften zu tun als filigrane Taschendiebstähle. Dem fingerfertigen Robin Hood der U-Bahn wird hier ein eiskalter Bandenboss in einer Welt der Drogen, Sex-Clubs, blutigen Morde und politischen Machenschaften gegenübergestellt.

So entwickelt sich eine Art Hardboiled-Krimi-Handlungsstrang, der aber auch märchenhafte Züge trägt. Denn der bedingunglos böse Antagonist stellt dem Dieb drei Aufgaben – nach einem Muster, das ein wenig an die Gebrüder Grimm erinnert.

Auf einer anderen Ebene geht es um eine sentimentale Geschichte – aber kühl und ohne Kitsch erzählt. Der Taschendieb schließt Freundschaft mit einem kleinen Jungen, den seine Mutter, eine Prostituierte, zum Stehlen zwingt.

Beide Geschichten sind packend, eine spannend, die andere berührend.

Und doch ist es viel mehr, was den Zauber dieses Romans ausmacht. Vielleicht entsteht diese besondere Atmosphäre durch das Flirrende, das er hat – zwischen Stereotypen und einer leichten Phasenverschiebung. Die Sprache ist sachlich-kühl und doch voller Poesie. Manches wird grell ausgeleuchtet, anderes im Halbdunkel verborgen. Was hyperrealistisch erscheint, ist doch auch irgendwie fantastisch. Der Roman ist in einem emotional septischen und gleichzeitig düster-schmutzigen Ambiente angesiedelt, und doch schwebt über allem eine unausgesprochene Wärme und Melancholie. Nakamuras Welt ohne Moral verbirgt etwas tief Romantisches.

Aber eigentlich habe ich wie die Opfer in der U-Bahn gar nicht wirklich bemerkt, wie es passiert ist. Dieser Dieb hat mein Leserherz gestohlen.

  • Fuminori Nakamura, Der Dieb, Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg, Diogenes, 224 Seiten, 12 Euro.

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