Voller Farben, Gerüche, Geschmäcker, Lärm und Stimmen ist die Welt, in die uns Wole Soyinka in seinen Kindheitserinnerungen Aké mitnimmt, bewohnt von charismatischen Persönlichkeiten, skurrilen Außenseitern, Waldgeistern und Dämonen, von einer Vielfalt von Tieren und Pflanzen sowieso. Es handelt sich um das ländliche Nigeria der 1930er- und 40er-Jahre, in dem der spätere Literaturnobelpreisträger vom frühreifen dreijährigen Pimpf zum etwa elfjährigen Gymnasiasten heranwächst und dabei um sich her eine vielfältige Realität voller Gegensätze und vermeintlicher Widersprüche kennenlernt. Für mich war das Buch ein faszinierendes Leseerlebnis, getragen von der poetischen, reichen Sprache sowie von Wärme und Witz des Autors.
Wole Soyinka, geboren 1934, schildert in seinen Kindheitsmemoiren den Mikrokosmos des Dorfes Aké. Zunächst reicht der Radius seiner kindlichen Lebenswelt nur bis zu den Mauern eines Pfarrgehöfts, das einen früheren Bischofssitz, das Pfarrhaus, eine Missionsbuchhandlung, eine Grundschule und das Wohnhaus des Rektors – Woles Vater – umfasst. Doch schon sehr früh drängt es den Knirps in die Welt hinaus. Er rennt einer Festtagsparade hinterher, die am Pfarrgehöft vorbei führt. Die aus frühkindlicher Perspektive horizonteröffnende Entdeckungsreise, auf der es bis zum vibrierenden Markt des nächsten Dorfes so vieles zu erleben gibt, ist ein erster Höhepunkt des Buches.
Hommage an Mutter und Vater
Ein durchgehender Plot, wie man ihn als Romanleser vielleicht erwarten würde, entwickelt sich in der Folge nicht. Das macht aber nichts. Ich bin bei der Aufeinanderfolge von Beschreibungen, Schilderungen von Lebensumständen, Portraits von Persönlichkeiten und einzelnen Episoden trotzdem gebannt dabei geblieben. Aus Soyinkas überaus detailreichen Erinnerungen lässt sich viel über afrikanischen Alltag ablesen.
Dazu gehört die Tatsache, welche Personen alles zu einem Haushalt gehören. Das sind weit mehr als die Kernfamilie aus Woles Vater S.A. – woraus sich in einer genialen Verballhornung der Initialen der Rufname Essay ableitet -, der Mutter – genannt „Wild Christian“ – sowie Wole und seinen Geschwistern. Dazu kommen noch diverse, wie eigene Kinder großgezogene oder zeitweise in Obhut genommene mehr oder weniger verwandte Kinder, Bedienstete und eine Gruppe, die eine Mischung aus Verwandten und Dienstboten darstellt. Alle schlafen nachts zusammen auf auf dem Fußboden ausgebreiteten Matten und werden durchgefüttert und erzogen. Letzteres mit harter Hand, denn Schläge – ob mit der Hand oder Rute – gelten als hauptsächliche pädagogische Methode.
Das ändert nichts daran, dass Wole Soyinkas Text auch eine höchst liebevolle Hommage an die Mutter ist. Sie wird gezeichnet als starke, mutige Frau mit eigenem Kopf, gesundem Menschenverstand und großem Gerechtigkeitssinn.
Kindheitserinnerungen aus Nigeria
Noch einmal völlig andere Methoden im Umgang mit Kindern lernt der heranwachsende Wole in Isara, dem Heimatdorf seines Vaters, kennen. Hier unterzieht ihn sein Großvater – den er „Vater“ nennt – einem grausam anmutenden Initiationsritus, bei dem dem Knaben Fuß- und Handgelenke geritzt werden. Es ist eine archaische Welt, der gegenüber das christlich-aufgeklärte, auf Bildung setzende Heim des Rektors, einen Quantensprung näher an die Moderne gerückt zu sein scheint.
Doch auch in Aké lebt eine muntere Mischung aus animistischer Beschwörung von allerlei Naturgeistern und der Anbetung christlicher Heiliger fort. Man betet sonntags in der Kirche genauso wie man davor warnt, ein böser Geist des Wahnsinns könne in die Kinder fahren. In kindlicher Unbefangenheit versucht Wole, die Erzählungen von Ahnen, die als Dämonen durch die Straßen laufen, mit christlicher Ikonografie in Einklang zu bringen.
Das wie so vieles andere auch bezieht seinen besonderen Charme aus der authentischen kindlichen Perspektive. So etwas gelingt nur ganz wenigen Autoren. Doch Wole Soyinka schafft es hier sehr überzeugend und reizvoll, aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, das noch einen magischen Blick auf seine Umwelt hat, das vieles noch nicht richtig einordnen kann, aber vieles mit Wissbegier und unverstellter Neugier hinterfragt und einen ganz besonders klaren, klugen, aber nicht altklugen Blick auf die Welt hat.
Beginn der Intellektuellenvita des Nobelpreisträgers
Wole ist in seiner Familie berühmt-berüchtigt dafür, sich – höchst suspekt! – mit einem Buch in eine Ecke abzusondern oder die Erwachsenen ununterbrochen mit Fragen zu löchern. Mit drei Jahren setzt er durch, dass er zur Schule gehen darf. Mit elf wird er am Ende des Romans ein Stipendium erhalten, um in einem – von der englischen Kolonialmacht geführten – Internat in der großen Stadt Ibadan Zugang zu höherer Bildung zu erhalten. So legt Wole Soyinka in Aké autobiografisch den Grundstock einer Intellektuellenvita an, die ihn später zum Literaturstudium nach England, zu höchstem Ruhm als Dichter, aber auch wegen politischem Aktivismus in der Militärdiktatur ins Gefängnis und ins Exil führen wird.
Gegen Ende nimmt in dem Buch inhaltlich eine Art feministischer Bewegung breiten Raum ein. Marktfrauen, denen immer horrendere Steuern abgepresst werden, tun sich zusammen und belagern schließlich den Palast des Alake, des Yoruba-Königs. Diese Bewegung vernetzt sich teilweise auch mit frühen Kämpfern für eine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht England.
Es ist ein großes Kunststück, wie Wole Soyinka in seinen Kindheitserinnerungen gleichzeitig ein ganz privates, lebensfrohes Familienportrait, eine nostalgische Beschwörung einer verschwindenden Realität und ganz nebenbei und mit Leichtigkeit eine komplexe zeitgeschichtliche Momentaufnahme darstellt, die diverse Spannungsfelder aufweist: Tradition und Moderne, Animismus und Christentum, Natur und Kultur, autochthone Gesellschaftsstrukturen und koloniale Macht, althergebrachte und „importierte“ Wertesysteme. Wole Soyinka betrachtet in Aké alles aus der unvoreingenommenen Perspektive des Kindes, enthält sich zwar weitgehend der Wertung, stellt aber auch vieles in Frage. Damit gelingt es ihm, Brücken zu bauen und Widersprüche zu einem großen Ganzen zu versöhnen. Sein Text ist dabei nicht einen Hauch belehrend, sondern jederzeit sinnlich und voller Schönheit.
- Wole Soyinka, Aké. Jahre der Kindheit, Aus dem Englischen von Inge Uffelmann, Unionsverlag, 384 Seiten, 9,99 Euro als E-Book, 14,95 als Taschenbuch.