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20 Jahre ist es nun her, dass Jonathan Safran Foer mit seinem Debutroman Alles ist erleuchtet als literarische Sensation gefeiert wurde. Und während manch anderes Buch, das zu seiner Zeit gehypt wurde, längst vergessen ist, ist dieses hier noch da. Es liegt aktuell in der 14. Auflage als Taschenbuch und in der 5. Auflage als Sonderausgabe vor. Ganz zu Recht, wie ich nun beim Wiederlesen nach langer Zeit festgestellt habe. Alles ist erleuchtet stellt eine in Inhalt und Ton bis heute einzigartige künstlerische Bearbeitung des Holocaust dar. Der Roman vermag zu verwirren, zu berühren, zu amüsieren und zu nerven. Er ist teils unterhaltsam, teils eine Herausforderung für den Leser. Genau diese Widersprüchlichkeit macht ihn aus. Kreativität, Originalität und Witz behaupten sich hier gegen eine grausame, niederschmetternde Realität.

Der Roman setzt sich aus drei verschiedenen Erzählebenen zusammen – eine Struktur, an der ich vor allem als aktiver Literaturwissenschaftler, der ich bei meiner Erstlektüre noch war, sicher meine helle Freude hatte, zumal der Text auch noch hübsch metatextuell die eigene Entstehung thematisiert und reflektiert. Das ist zwar nicht so kompliziert, wie es klingt, aber ein grundlegendes Rüstzeug an Analysefähigkeit verlangt Safran Foer seinen Lesern schon ab.

Auf der Suche nach der Familiengeschichte

Eine Textebene ist eine Geschichte, die Ende der 1990er-Jahre spielt. Erzähler ist hier der junge Ukrainer Alex. Sein Vater betreibt in Odessa ein Reisebüro, das auf amerikanische Juden auf der Suche nach den Spuren ihrer Vorfahren spezialisiert ist. Gemeinsam mit dem Großvater betreut Alex nun den Amerikaner Jonathan Safran Foer, wie Alex etwa Anfang 20, der in der Ukraine den Herkunftsort seines Großvaters besuchen möchte, das Dorf Trachimbrod. Dort hat der Großvater 1942 einen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis überlebt. Ganz konkret ist der Enkel nun auf der Suche nach einer Frau, die auf einem vergilbten, zerfledderten Foto an der Seite seines Großvaters zu sehen ist. Eine Notiz auf der Rückseite weist sie als eine gewisse Augustine aus. Sie soll dem Großvater angeblich das Leben gerettet haben.

Jonathan, Alex und dessen Großvater begeben sich auf der Suche nach Augustine auf einen Roadtrip, der voller absurder Komik beginnt. Das Trio fährt in einer alten Rostlaube durch die Lande, gesteuert vom ständig einschlafenden, sich für blind haltenden Opa, und auf dem Rücksitz schleckt der „Blindenhund“ namens Sammy Davis jr. jr. den hundehassenden Amerikaner ab. Im ukrainischen Restaurant stößt der vegetarische Gast aus Übersee mit seinem Wunsch nach einem fleischlosen Gericht auf Unverständnis.

Das Komischste an diesen Passagen ist aber die Sprache: Alex erzählt das alles in einem radebrechenden Englisch voller verdrehter Redewendungen, grammatikalischer Kapriolen und skurriler Wortschöpfungen. Die Kreation dieser höchst drolligen Sprache ist eine Kunst für sich, und sie in eine überzeugende deutsche Version zu übertragen eine kongeniale Leistung des Übersetzers Dirk van Gunsteren.

Zwischen Komik und Grausamkeit

Inhaltlich bleibt dieser Handlungsstrang allerdings keineswegs so heiter, sondern führt geradewegs in ein grauenhaftes Kapitel des Holocaust, die Auslöschung des jüdischen Schtetls Trachimbrod durch deutsche Besatzer, die dort einen Massenmord begingen und dabei Sadismus, Kälte und Perfidität auf die Spitze trieben. Von Trachimbod findet das Trio nichts weiter vor als einen einsamen Gedenkstein, der an das Massaker erinnert, sowie eine einzelne Frau, die das Gedächtnis des ausradierten Ortes aufzubewahren versucht. Überraschend tritt eine persönliche Verbindung der historischen Ereignisse zu Alex‘ Großvater zutage.

Mit dem Wechsel von Komik zur dunkelsten Tragödie wagt Safran Foer hier eine Wanderung auf Messers Schneide. Die Leichtigkeit des Erzähltons kontrastiert mit der Schwere des Stoffs, wirkt dabei aber nie unpassend. Alex‘ sprachliche Extravaganzen, über die man beständig schmunzeln muss, bewahren die Erzählung vielmehr davor, dass die Ernsthaftigkeit je in irgendeine Form von Gefühligkeit oder Melodramatik abrutschen könnte, die den historischen Ereignissen nicht angemessen wären.

Fast nebenbei entwickelt Safran Foer die Figur des Alex dabei von einer Art Karikatur osteuropäischen Männlichkeitsgehabes – er prahlt mit sexuellen Abenteuern und spart nicht an selbstdarstellerischen Superlativen – zu einem vielschichtigen, hochsensiblen Charakter mit Brüchen und viel Tiefgang, der sich hinter der grellen Fassade verbirgt. Als Leser gewinnt man ihn und sein Radebrechen lieb, und er wird zum Inbegriff von Vielfalt und der Schönheit der vermeintlichen Fehlerhaftigkeit. Er repräsentiert mithin das, was die Nazis zwei Generationen zuvor gerade vernichten wollten.

Was ich hier sehr ausführlich schildere, macht allerdings geschätzt höchstens ein Drittel des Romans aus. Breiten Raum nehmen andere Passagen ein, die weit weniger zugänglich und durchschaubar sind – und die, wie ein nicht repräsentiver Blick in alte Rezensionen zeigt – auch in den meisten anderen Buchbesprechungen gerne mal kurz abgehandelt werden.

Schreibend Geschichte zurückerobern

In langen – oder habe ich sie nur als so lang empfunden? – Kapiteln wird die Geschichte Trachimbrods, speziell der Vorfahren Jonathans, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zu seiner Vernichtung 1942 erzählt, und zwar in einem an den magischen Realismus eines Gabriel García Márquez erinnernden mythischen Duktus. Diese Erzählung geht von einer Art Urereignis aus, einem Unfall, bei dem ein Mann namens Trachim in der Nähe des Dorfs mit seinem Wagen im Fluss Brod versinkt. Aus der Wagenladung steigt eine große Menge eigentümlicher Gegenstände an die Wasseroberfläche – ich habe bei dieser Gelegenheit das Wort „Pincenet“ gelernt. Darunter befindet sich auch ein weiblicher Säugling, Jonathans Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter.

Diese Kapitel waren für mich harte Lesekost. Die Figuren wirken eher wie Archetypen denn wie Menschen aus Fleisch und Blut, und die Ereignisse sind einfach zu absurd, als dass ein Mitfühlen möglich wäre. Vieles bleibt schwer nachvollziehbar, und es hat mich jedes Mal aufs Neue Überwindung gekostet, mich wieder auf die Künstlichkeit und Abstraktheit dieses Erzählstrangs einzulassen. Eine Reihe sehr fantasievoller, ungewöhnlicher und ausdrucksstarker Motive ist mir dennoch im Gedächtnis geblieben.

Erst einmal unzugänglich bleibt dieser Teil des Romans auch, weil sich der Sinn dahinter nicht so eindeutig erschließt. Es ist eine dritte Erzählebene, die hier etwas Licht ins Dunkel bringt, nämlich Briefe, die Alex nach der gemeinsamen Reise aus der Ukraine an den in die USA zurückgekehrten Jonathan schreibt. Daraus erschließt sich, dass beide jungen Männer jeweils an einem Roman schreiben, aus denen sie sich fertig gestellte Abschnitte gegenseitig zuschicken. Die Kapitel über die Suche nach Augustine hat Alex verfasst, die Geschichte Trachimbrods stammt aus der Feder Jonathans. In dem Briefwechsel, von dem wir aber nur Alex‘ Beiträge zu lesen bekommen, kommentieren beide Autoren wechselseitig ihre Werke, kritisieren und versuchen auch mal, den anderen dazu zu bewegen, etwas umzuschreiben – was per se schon ein unaufdringlich eingebautes, aber sehr raffiniertes Spiel rund um Fiktion, lebensweltliche Realität, Unzuverlässigkeit des Erzählens und die Entstehung von Literatur ist, übrigens gesteigert durch die Übereinstimmung von Namen und biografischen Eckdaten der Romanfigur und des realen Autors Jonathan Safran Foer.

Neue Facette des Holocaust-Romans

Während Alex nun also – so die Prämisse des Romans – die Erlebnisse der Reise in Literatur verwandelt, muss Jonathan mit seinem Text eine große Leerstelle füllen. Trachimbrod, wo er seine Wurzeln gesucht hat, ist vom Erdboden ausradiert. Die Ursprünge, die Mythen und Traditionen, die schriftlichen Zeugnisse, die menschlichen Dramen, ja die ganze Welt des ausgelöschten jiddischen Schtetls und damit seine Herkunft kann sich der Schriftsteller nur aus ganz vereinzelten Bruchstücken mit der Kraft der Fantasie rekonstruieren. Dass er das mit überbordender Kreativität, Farbenvielfalt, Humor und zahllosen Details bis hin zur Erfindung eines ganzen Schrifttums und auch mit sehr eigenwilliger innerer Logik tut, lässt sich als später Triumph über den Zerstörungswillen der Mörder verstehen. Das erfundene überbordende Leben Trachimbrods macht gleichzeitig den unwiederbringlichen Verlust einer ganzen Kultur schmerzhaft spürbar. So habe zumindest ich es empfunden, ohne dass der Roman selbst eine so eindeutige Interpretation anbieten würde. Muss er auch nicht. Vielmehr macht seine Sinnoffenheit auch die poetische Qualität dieses Romanteils aus.

Indem sie beide – einmal aus der Vergangenheit, einmal aus dem Rückblick aus einer späteren Zeit – auf das zentrale Ereignis des Nazi-Verbrechens zusteuern, nähern sich die Hauptstränge des Romans einander an, und alles fügt sich zu einem großen Ganzen. Das ist meisterhaft orchestriert und komponiert von Jonathan Safran Foer – und umso erstaunlicher, wenn man daran denkt, dass er bei Veröffentlichung des Romans gerade einmal 25 Jahre alt war. Aus der Perspektive der übernächsten Generation hat er der Holocaust-Literatur eine vollkommen neue, wichtige Facette hinzugefügt.

  • Jonathan Safran Foer, Alles ist erleuchtet, Fischer Taschenbuch, 384 Seiten, 13 Euro.
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