Autofiktion mit gesellschafts- und identitätspolitischer Dimension: Das ist wohl die Art von Büchern, die man zurzeit lesen muss, um am Puls der Zeit zu sein. Zu so einer „Literatur der Stunde“ sind sicherlich auch die Werke des Franzosen Édouard Louis zu zählen – zumal sie thematisch wie politisch dem Dunstkreis der Literatur-Nobelpreisträgerin von 2022, Annie Ernaux, zuzuordnen sind. Beide Autoren schreiben über ihr eigenes Leben und haben gemeinsam, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegen sind und sozial wie auch mit ihrer Bildung und ihrer Art, die Welt zu sehen, einen krassen Bruch mit ihrem Herkunftsmilieu vollzogen haben.
Dieser Bruch ist auch das Thema in Louis‘ neuem Buch – es steht „Roman“ darauf – Anleitung ein anderer zu werden. Ich muss es allerdings gleich sagen: Es fällt mir schwer, in die allgemeinen Jubelchöre zur Feier dieses Autors einzustimmen.
Ich komme mir fast schlecht vor, dass ich Vorbehalte gegen die Literatur von Édouard Louis habe. Sollte nicht meine ganze Solidarität diesem doppelten Außenseiter gehören, diesem mehrfach Diskriminierten? Zum einen ist da die soziale Benachteiligung des 1992 als Eddy Bellegueule geborenen, in prekären Verhältnissen aufgewachsenen jungen Mannes, dem aufgrund seines Herkunftsmilieus so viele Türen verschlossen zu bleiben drohen. In der ärmlichen ländlichen nordfranzösischen Gegend, in der er groß wird, scheint das Schicksal der Menschen vorgezeichnet zu sein. Kaum ein Entrinnen gibt es offenbar aus einem Sumpf des Sich-Kaputtarbeitens in stumpfen, ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen in Fabriken und einem sozialen Umfeld, das geprägt ist von Alkoholkonsum, Machogehabe, Fremden- und Geistesfeindlichkeit. Genau dort auch noch als Homosexueller aufzuwachsen, bedeutet für den jungen Eddy wiederum ein brutales Ausgestoßensein. Natürlich gilt ihm auch meine Sympathie und Empathie voll und ganz, und als Leser – zunächst seines Erstlingsromans Das Ende von Eddy – wünschte ich ihm nichts mehr, als dass ihm Flucht und Aufstieg gelingen.
Wie das vonstatten geht, ist nun in Anleitung ein anderer zu werden nachzulesen, so etwas wie die Fortsetzung von Das Ende von Eddy. Eddy hat es aufs Gymnasium nach Amiens geschafft und findet sich nun mit einem Mal in einem völlig anderen Umfeld wieder, das er vor allem durch die Freundschaft mit seiner Mitschülerin Elena näher kennenlernt. Es ist das bildungsbürgerliche Ambiente einer mittelgroßen Provinzstadt. Hier sitzt man abends nicht mit einem Glas Pastis und einer Zigarette in Händen auf der Couch und verfolgt TV-Shows wie daheim in Eddys Dorf, sondern nimmt sein Abendessen gesittet bei Tisch zu sich, im Hintergrund leise klassische Klaviermusik, und tauscht sich über die Eindrücke des Tages, Literatur, Film und Theater aus.
Eddy erfindet sich neu, indem er sich anpasst, Elenas Interessen und Gehabe nachahmt, indem er seine Art, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, ändert, seine Art zu lachen, seine Art zu reden. Passend dazu verpasst ihm die Gastmutter noch den weniger nach Prekariat klingenden Namen Édouard Louis.
Irgendwann aber wird es Édouard auch in der Provinzstadt zu eng – und zwar vor allem von dem Abend an, an dem er bei einer Lesung den Philosophen Didier Eribon kennenlernt. Édouard erkennt sich in dessen Aufstieg aus ebenfalls armen Verhältnissen wieder und sieht in ihm ein Vorbild sowie die Verheißung eines intellektuell wie auch erotisch befreiten Lebens in Paris. Von da an eignet sich Édouard fast zwanghaft Bildung an, liest alles, was er kann, ob er es nun versteht oder nicht, büffelt wie besessen, um die Aufnahmeprüfung der prestigeträchtigen Elite-Hochschule École normale superieure zu schaffen – was ihm auch gelingt. Gleichzeitig verschaffen ihm diverse Gönner, mit denen er Affären unterhält, Zutritt in die oberen bis obersten gesellschaftlichen Kreise. Édouard Louis lernt das andere Ende der sozialen Skala kennen und eignet sich an, wie man sich dort zu bewegen hat. Am Ende des Buches ist er ein bereits in jungen Jahren höchst erfolgreicher und anerkannter Schriftsteller. Er hat es geschafft – und ist doch nicht frei von Melancholie.
Wie gesagt, von Herzen gönne ich dem Menschen Édouard Louis, dass er den schwierigen Startbedingungen zum Trotz seinen Weg gemacht hat, der sozialen Benachteiligung entkommen ist und zu einem freien Leben als Homosexueller gefunden hat. Seine gesellschaftliche und sexuelle Emanzipationsgeschichte ist mit Sicherheit relevant zu erzählen.
Das hat aber nichts damit zu tun, ob ich das Buch als Literatur besonders gelungen und ansprechend finde. Ich habe es sicherlich nicht ungern gelesen, der Stil ist flüssig und anschaulich. Und doch… Vielleicht sorgt bei mir für etwas Unwohlsein, dass Édouard Louis die Romanhandlung oder, noch schlimmer, das eigene Leben hier mehr oder weniger zur soziologischen Fallstudie macht. Die Herkunft bestimmt uns mehr als alles andere – diese Grundthese scheint dem Schreiben Louis‘ zugrunde zu liegen. Der Aufstieg gelingt ihm nur durch komplette Loslösung von diesem Herkunftsmilieu und bedingungslose Anpassung an „höhere“ soziale Schichten, durch den Kraftakt einer umfassenden Neuerfindung seiner selbst, zu der letztlich sogar das Ausleben seiner Homosexualität zu gehören scheint, die ihn von den Werten der „Unterschicht“ distanziert und dem liberalen Bürgertum annähert.
Darüber lohnt sich nachzudenken, die Thesen lassen sich in ihrer Rigorosität aber auch hinterfragen. Louis‘ Umdefinition seiner Person lässt sich als Akt der Selbstermächtigung lesen: Er hat es geschafft zu sein, was er sein wollte, statt zu sein, was seine Herkunft ihm aufzwang. Aber ist die Mimikry, die er letztlich beschreibt, wirklich so erstrebenswert? Ist es nicht auch ein Stück Selbstverleugnung? Ist er letztlich nicht selbst das beste Beispiel, dass die Gesellschaft eben doch Aufstiegschancen unabhängig von der Herkunft bietet?
Ob ich ihr nun zustimme oder nicht: Ich möchte aber eigentlich von einem Roman noch etwas anderes, als eine – nicht einmal sonderlich ausdifferenzierte – soziologische Welterklärung serviert zu bekommen. Bei mir bleibt nach der Lektüre das Gefühl, dass mir hier ein bestimmtes Schema, die Gesellschaft zu betrachten, aufgedrängt wird. Und mag ich das Buch nicht – na, dann muss ich wohl einer sein, der nicht akzeptiert, dass auch einer, dem es nicht in die Wiege gelegt wurde, hohe Literatur hervorbringt? Dann hänge ich überkommenen klassistischen Vorstellungen an?
In die Schublade will ich natürlich absolut nicht, aber ich glaube: Literatur könnte mehr, als es Édouard Louis hier zeigt, könnte mehr Zerrissenheit spiegeln, mehr Doppeldeutigkeit zulassen, eindeutige Wahrheiten vermeiden. Ich frage mich etwa: Könnte es nicht sein, dass ein familiärer Fernsehabend auf einer durchgesessenen Couch bei Trash-TV und dummen Witzen mehr Geborgenheit vermittelt als aufgezwungene gesittete Tischgespräche bei Kerzenschein und Klaviergeklimper von der CD? Könnte nicht auch hinter der vermeintlichen Freiheit des schwulen oder intellektuellen Lebens in Paris Leere und Selbstbetrug stecken? Gerade wenn ein Autor sich selbst zur Hauptfigur macht, würde nach meinem Geschmack eine Prise Ironie für Erleichterung in all der Selbstinszenierung sorgen. Den durchgehend heiligen Ernst bei Édouard Louis kann ich dagegen nicht immer ernst nehmen. Etwa, wenn er im Opfer-Duktus beschreibt, wie er im Sportunterricht immer als letztes übrig blieb, wenn Mannschaften gewählt wurden. Kann man auf so etwas nicht mit mehr Gelassenheit und Distanz zurückblicken?
Wenn man schon auf Nuancierung verzichtet, dann hat eine expressionistische Schwarz-Weiß-Malerei wie in Das Ende von Eddy noch mehr Kraft in ihrem Furor und ihrer Schonungslosigkeit. In Anleitung ein anderer zu sein dagegen ist nicht viel enthalten, was wirklich noch schockieren könnte. Da irritiert es schon fast, wie diskret der Autor über die Einzelheiten seiner sexuellen Eskapaden hinweggeht. Und der etwas mildere Blick auf Mutter und Vater droht, ins Gönnerhafte zu rutschen.
Ich klinge jetzt dem Buch und damit zwangsläufig auch dem Autor, der seine Person ja untrennbar mit seiner Literatur verbunden hat, gegenüber böser und kritischer, als ich möchte. Édouard Louis hat mit seinen Büchern einen sehr eigenen, neuen Ton in der Literatur gesetzt, eine bisher meist vernachlässigte Perspektive und wichtige Denkanstöße eingebracht. Ihn persönlich habe ich bei einer Lesung als überaus sympathischen und sehr klugen Redner erlebt. Ich warte darauf zu lesen, was und wie er mit 40, 50 oder 60 Jahren schreibt.
- Édouard Louis, Anleitung ein anderer zu werden, Aus dem Französischen von Sonja Finck, Aufbau, 272 Seiten, 24 Euro.