Ein historischer Roman mit großer politischer Relevanz für die Gegenwart ist Underground Railroad ohne Zweifel. Literarisch anspruchsvoll und raffiniert sowieso, dabei schonungslos und oft brutal. Bemerkenswert ist aber darüber hinaus, wie Colson Whitehead es versteht, diese Merkmale mit einer überaus spannenden Geschichte zu verbinden, die mich gefesselt hat wie wenige andere Romane. Das einzige, worüber man streiten könnte, ist, ob ein komplexes, eigentlich unfassbares Thema wie die bis heute wirkende Rassismus-Geschichte der USA wirklich geeignet ist, um unter Einsatz aller traditionellen Finessen der Erzählkunst zu einer Geschichte mit Blockbuster-Faszination verarbeitet zu werden. Doch warum nicht? Underground Railroad ist auf jeden Fall geeignet, aufzurütteln und einen direkten, emotionalen Zugang zu einem wichtigen Thema zu schaffen.
Die Underground Railroad war historisch gesehen im 19. Jahrhundert ein Netzwerk von Personen, die Sklaven zur Flucht aus den Südstaaten der USA in die für sie sichereren Nordstaaten oder nach Kanada verhalf. Aus der metaphorischen Bezeichnung dieses „Untergrund-Gleises in die Freiheit“ macht Colson Whitehead in seinem Roman nun eine wörtlich und physisch zu verstehende Fluchtroute, bestehend aus unterirdisch angelegten, versteckten Zugstrecken, die auf geheimen Wegen durch Tunnels von Bundesstaat zu Bundesstaat führen.
Auf dieser Route begleitet die Handlung die Sklavin Cora auf ihrer Flucht von einer Baumwollplantage in Georgia. In der Darstellung der dortigen Zustände erspart Whitehead dem Leser nichts an Grausamkeit, Sadismus, Menschenverachtung oder Willkür, was sich der menschliche Geist nur oder eher nicht auszumalen vermag. Gründlichst radiert der Autor aus, was vielleicht noch in irgendeiner Ecke des Bewusstseins vom verklärenden oder verharmlosenden Blick auf die Südstaaten-Sklaverei aus Vom Winde verweht oder Onkel Toms Hütte übrig geblieben sein mag. Der Autor macht dabei auch deutlich, wie diese extreme Form, in der Menschen als Vieh und Ware behandelt werden, aus einem kalten Kapitalismus erwachsen, einer rücksichtslosen Gier nach Rohstoffen, in diesem Fall Baumwolle.
In dieses entmenschlichte Szenario setzt er mit der jungen Cora eine starke, facettenreiche, nicht immer leicht zu durchschauende Protagonistin. Sie ist selbst unter den Sklaven eine misstrauisch beäugte Außenseiterin, verschlossen, hart, unbeugsam. Was sie mit Klauen und Zähnen verteidigt, ist zum einen das nackte Leben, zum anderen aber auch ein Kern an Menschlichkeit und Empathie, der nicht zu brechen ist. Diese Eigenschaften machen sie zu der einen unter hundert, die es möglicherweise schaffen könnte zu entkommen. Wie vor ihr ihre sagenumwobene Mutter, die gleichzeitig Vorbild ist und der Cora doch nicht verzeihen kann, dass sie bei ihrer Flucht ihr Kind im Stich gelassen hat.
Cora macht sich zusammen mit Caesar, einem Mann, der sich Selbstachtung und Hoffnung bewahrt hat, auf den Weg. Ein Weg, auf dem ihre Begleiter und Helfer wechseln werden. Viele von ihnen wird sie verlieren. Erhalten bleibt ihr als ständiger Verfolger nur der Sklavenjäger Ridgeway, der von der einstigen Demütigung, Coras Mutter Mabel nie gefunden zu haben, angetrieben wird und für eine abgeklärte, materialistische, dabei nicht minder chauvinistische Sichtweise auf die Sklaverei steht.
Whitehead spielt in seinem Roman immer wieder virtuos mit den Erwartungen seiner Leser. Wann immer ihr Unterfangen besonders aussichtslos erscheint, eröffnet er Cora doch wieder einen Ausweg. Doch sobald sich nur ein Hauch von Hoffnung einstellt, lässt der nächste grausame Rückschlag nicht lange auf sich warten. Der Autor genießt es sichtlich, immer wieder in die erzählerische Trickkiste zu greifen und den Leser damit zu zwingen, am Ball zu bleiben und sich der Auseinandersetzung mit einem noch immer nicht ausreichend aufgearbeiteten Kapitel der Geschichte zu stellen.
Was jenseits der atemlosen Lektüre aber hängen bleibt, ist das Bild, dass Cora gar nicht weit genug laufen kann, um den Kraken eines rassistischen Systems zu entkommen, dem sie, wo auch immer sie ankommt, in neuen Variationen begegnet. Erfolgt die Auslöschung des Individuums auf der Baumwollplantage vor allem mit physischer, sadistischer Gewalt, sind die Mechanismen der Unterdrückung in der vermeintlichen Freiheit in South Carolina subtiler. Da wird Cora in einem Museum zur Darstellerin einer afrikanischen Wilden degradiert und findet heraus, wie Schwarze heimlich zu medizinischen Experimenten missbraucht und im Sinne der Eugenik zwangssterilisiert werden. Die geheuchelte Menschenfreundlichkeit, die all das verdecken soll, schmerzt vielleicht noch mehr. In North Carolina wiederum findet sich Cora in einem nazistischen, mörderischen Regime wieder, lebt – mit Sicherheit eine bewusste Analogie – versteckt wie eine Jüdin im Dritten Reich auf einem Dachboden, muss von dort Hinrichtungen schwarzer Menschen vor einer entfesselten johlenden Masse beobachten. Zum Schluss erweist sich auch die Utopie einer Art Kommune befreiter Sklaven als von Verrat, Hass und Gewalt bedroht.
Colson Whiteheads Erzählweise ist bei alldem nicht unbedingt abwägend und nuanciert. Doch wie sollte sie es das auch sein, bei der Darstellung eines Menschheitsverbrechens, das in seiner ganzen Dimension noch immer der Aufarbeitung harrt? Underground Railroad packt den Leser vielmehr am Schlafittchen und rüttelt ihn durch – sehr direkt, sehr emotional.
Ob es am Ende der Bahnstrecke Licht am Horizont gibt? Die Fahrt der Underground Railroad jedenfalls ist im Hier und Heute noch lange nicht an ihrer Endhaltestelle angekommen. Ein Roman wie dieser ist natürlich viel mehr als ein Blick in die historische Vergangenheit, sondern öffnet den Blick für Kontinuitäten, für Konflikte und Ungleichheit, die bis in die Gegenwart ragen. Cora ist am Ende weit, weit geflohen – doch um in der Freiheit anzukommen, muss sie weiterlaufen.
- Colson Whitehead, Underground Railroad, Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl, Fischer Taschenbuch, 352 Seiten, 13 Euro.