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Meine Lektüre-Auswahl orientiert sich normalerweise nicht an der aktuellen Bestsellerliste. Ich bin vielmehr der Meinung, dass ein Buch kein Werk für den Moment, sondern bestenfalls für die Ewigkeit sein sollte, zumindest aber genauso gut viele Jahre nach seiner Veröffentlichung gelesen werden kann. Außerdem bürgen ja gute Verkaufszahlen keinesfalls für die hohe Qualität eines Buchs, sondern deuten, nun ja, in aller Regel eher auf das Gegenteil hin. Manchmal bin ich dann aber doch neugierig, was es mit den Büchern auf sich hat, über die auf allen möglichen Kanälen geredet wird, und möchte mich beim Lesen am Puls der Zeit fühlen. Es war dann aber doch eher Zufall, dass ich diesen Sommer gleich zwei Romane hintereinander gelesen habe, die gerade große Verkaufsschlager sind. Ohne dass ich mir das vorgenommen hätte, war das sozusagen meine  persönliche „Bestseller-Challenge“, um mich mal an den Duktus des allseits beliebten NDR-Podcasts eat read sleep anzulehnen. Die Eindrücke sind gemischt.

Keine Sorge, ich habe mir kein erotisches Fantasy-Epos, keinen als Thriller getarnten Gewaltporno und auch keine rosarote Pubertätsromanze reingezogen, wie sie sich im Dutzend auf den Bestsellerlisten tummeln, sondern schon zwei Romane, die im weiteren Sinne der ernstzunehmenden Literatur zuzuordnen sind: Offene See von Benjamin Myers und Hast du uns endlich gefunden von Edgar Selge.

Benjamin Myers, Offene See: Wohlfühl-Zeitvertreib mit literarischem Anstrich

Ich kann bei beiden verstehen, dass sie sich gut verkaufen. Gerade Offene See liest sich ausgesprochen süffig herunter, ist emotional und hinterlässt bei vielen Lesern sicherlich auch noch das Gefühl, etwas mit Tiefgang gelesen zu haben. Doch mehr, als ein bedeutungsschweres Buch zu sein, tut es bloß so, als wäre es das. In Wirklichkeit ist es einfach eine ordentlich erzählte unterhaltsame Geschichte – nichts Dummes, gut gemacht, Lektüre zum Wohlfühlen und am Ende – ich gebe es zu – durchaus anrührend. Das ist ja schon einiges. Aber es ist auch nicht so viel dahinter, wie es scheint.

Denn beim Thema hat der Autor durchaus in die Klischeekiste gegriffen. Einem Jungen vom Land wird in einem das Leben verändernden Sommer durch die Begegnung mit einer älteren unkonventionellen Frau und vor allem durch die Begegnung mit der Literatur der Geist geöffnet, und er wagt es dadurch, vom ihm scheinbar vorgegebenen Lebensweg abzuweichen und sich selbst zu verwirklichen. So sympathisch mir das Plädoyer für die Welten eröffnende Bedeutung des Lesens ist: Haben wir das nicht hie und da schon gehört – nur weniger aufdringlich? Die Moral von der Geschicht‘ erinnert doch sehr an einen Kalenderblattspruch.

Und wie passt es mit der im Roman propagierten Liebe zur Literatur zusammen, dass dem Autor seine Sprache teils derart aus dem Ruder läuft? Seine ambitionierten Metaphern sind wie Unfälle, bei denen man nicht wegsehen kann. Das Bild von den Eutern, die wie Luftballons an den Kühen baumeln, will mir (leider) nicht mehr aus dem Kopf. Auch die klebrige, übertriebene Naturschwärmerei war mir vor allem zu Beginn des Romans zu viel. Ob es dann besser wurde oder ich mich etwas daran gewöhnt habe, weiß ich nicht.

In Offene See schildert der Ich-Erzähler aus der Perspektive des alten Mannes, wie er mit etwa 16 Jahren nach der Schulzeit im England der Nachkriegszeit auf Wanderschaft geht, bevor er wie alle in seinem Dorf wohl anfangen wird, unter Tage im Bergbau zu arbeiten. Unterwegs bleibt er bei der eremitisch in einem Häuschen nahe dem Meer lebenden, kauzigen Dulcie hängen und stößt auf deren Lebensgeheimnis: die Liebe zur deutschen Dichterin Romy Landau, die in jungen Jahren Selbstmord beging. Der Junge findet Romys Manuskript Offene See. Dass die darin enthaltenen Gedichte wahre Meisterwerke sein sollen – nun ja, das muss der Leser dem Autor ebenso glauben wie die vom Roman vorgegebenen Interpretationen. Noch die Entschlüsselung der konventionellsten Metapher wird mitgeliefert. Für sich sprechen die teils wiedergegebenen Gedichte kaum.

Überhaupt: Viel selbst denken muss der Leser hier nicht. Dulcie serviert ihre Lebensweisheiten gratis. Die Figuren sind leicht einzuordnen, und zwar in vertraute Stereotype. Die Dosis an Tragik hält sich in verträglichem Rahmen. Dazu gibt es eine große Portion an sinnlichen Eindrücken, von Essen, Trinken, Sommer, Natur, Meer – und noch dazu einen netten Hund. Es gibt keinen Grund, das Buch nach der letzten Seite nicht zufrieden zuzuklappen, zumal man sich auch noch etwas erhaben fühlen kann, geht es doch um Literatur. Selbst ist der Roman Offene See keine solche tief in die Seele dringende Literatur, wie er sie zu loben behauptet. Aber als sommerliche Strandlektüre und angenehme Zeitverschwendung irgendwie auch schön, das muss ich dann doch zugeben und will mich eigentlich auch gar nicht darüber erheben. Ordentlich gemachte Unterhaltung wie diese ist gar nicht so leicht zu finden, auch wenn sie sich aus einem vertrauten Baukasten bedient. Also zu Recht ein Bestseller.

Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden: Blick in die Enge der Nachkriegszeit

Warum sich Edgar Selges Hast du uns endlich gefunden so gut verkauft, liegt dagegen nicht so sehr auf der Hand. Man ist versucht zu sagen, dass hier wohl der prominente Name des Autors den entscheidenden Kaufimpuls liefert. Edgar Selge ist dem Publikum des anspruchsvollen Sonntagabendkrimis wohl vertraut, und man liegt sicher nicht falsch, wenn man annimmt, dass diese Kindheits- und Jugenderinnerungen aus den 1960er-Jahren ansonsten wohl nicht auf so breites Interesse gestoßen wären.

Ganz im Gegensatz zu Offene See ist der Inhalt von Selges Buch aber alles andere als gefällig. Die Atmosphäre, in die der Leser hier eintaucht, ist stattdessen eine der Enge und Bedrücktheit, auf den ersten Blick farblos und unattraktiv wie das in Beige-Tönen gehaltene Cover, das ich ausgesprochen dröge finde. Beide Romane spielen im weiteren Sinn in der Nachkriegszeit. Doch während bei Myers davon eher ein romantischer Hauch von Schicksal und materieller Not durch die Seiten weht, lastet die Vergangenheit bei Selge bleiern auf den Figuren bis in die nächste Generation hinein. Das ist natürlich für den Leser unbequemer, aber auch ungleich authentischer.

Im Mittelpunkt steht Edgar Selges Vater. Er war im Dritten Reich Jurist und steht nun in den 1960er-Jahren einem Jugendgefängnis als Direktor vor. In seiner Freizeit ist er ambitionierter Hobbymusiker. Zu den regelmäßigen Hauskonzerten werden auch die jungen Insassen der Strafanstalt in die Wohnung der Selges geholt. Die Mutter kann zeittypisch ihre eigenen Interessen kaum entfalten, muss sich ins für die Frau vorgesehene familiäre Rollenbild fügen und hat den Tod eines Kindes zu verkraften, das beim Spielen eine Kriegsgranate findet. Beide tun sich schwer mit der vollständigen Entwertung ihrer bisherigen Biografie aus dem Nazi-Deutschland, können sich den damit verbundenen Gräueln und ihrer eigenen Verantwortung kaum stellen und finden sich in der neuen Zeit nur hadernd zurecht. Durch die zur Schau getragene Kultiviertheit pflegen sie ein alternatives „deutsches“ Selbstbild, entkommen aber nicht dem klaren, kritischen Blick der nachfolgenden Generation.

Ob in diesem inneren Konflikt die Gewalttätigkeit des Vaters gegenüber den Kindern begründet liegt? Oder war die Gewalttätigkeit eine Grundlage der Architektur des Nazi-Regimes? Selge vermeidet hier eindeutige Antworten und Interpretationen. Die unverstellte Perspektive des Kindes erlaubt ihm eine Darstellung ohne Wertung. Das ist von der literarischen Herangehensweise, aber auch von der Tragweite der Thematik natürlich deutlich anspruchsvoller, zugleich freilich schwerer verdaulich als der oben besprochene Bestseller. Gerade die Figur des Vaters, seine ungerechte Autorität, die Gewaltexzesse und auch Szenen an der Grenze zu sexuellen Übergriffen auf den kleinen Edgar fand ich schwer erträglich.

Dass Selges Buch sich trotzdem ebenso gut verkauft, liegt wohl daran, dass sich vermutlich eine Generation selbst beziehungsweise ihre Eltern darin wiedererkennen kann und dass es den Zwiespalt aufgreift, den wohl viele empfinden: zwischen Liebe zu Mutter und Vater und der gleichzeitigen Distanzierung von ihnen. Verträglicher wird die schwere Kost durch Selges gewitzten, leicht gängigen, unmittelbaren Stil. Er beobachtet fein, und die subversive Kindfigur bricht einiges von der Starre auf.

Hast du uns endlich gefunden spielt literarisch in einer ganz anderen Liga als Offene See, was Subtilität und Relevanz betrifft. Ob es deswegen gleich große Literatur ist? Ich zögere etwas. Letztlich sind mir die Figuren doch etwas zu fremd geblieben, um mit dem Buch richtig warm zu werden. Für mich ist der Vater doch bloß ein Scheusal. Und auch in die Mutter konnte ich mich schwer einfühlen. Gute fiktionale Literatur könnte vermutlich mehr aus solchen ambivalenten Figuren machen als ein autobiografischer Text.

Aber dass so ein leises, tiefgründiges Buch in Deutschland zum Bestseller werden kann, nehme ich mal als gutes Zeichen.

  • Benjamin Myers, Offene See, Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, DuMont, 272 Seiten, 12 Euro.

  • Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden, Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro.
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3 Kommentare zu “Meine Bestseller-Challenge: „Offene See“ und „Hast du uns endlich gefunden“

  1. Ich war über „Hast du uns endlich gefunden“ sehr verwundert – insbesondere am Ende, als die Rede über die Mutter hereinbricht, er den Schmerz über den Verlust seines Bruders aus sich herausschreibt, war ich sehr beeindruckt. Insgesamt liest es sich vielleicht zu gefällig, aber die meisten sogenannten „Hochkultur“-Romane lesen sich ja mittlerweile auch so. Der Unterschied ist schwer zu greifen für mich. Welches Buch wäre denn in den letzten Jahren als „Literatur“ durchgegangen? Ich hätte da „Klara und die Sonne“ auf Lager, denke ich, wenn die Poesie (Friederike Mayröcker) mal außen vorbleibt.

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    • Du hast Recht, es ist schwierig, eine Grenze zu ziehen, wo „Literatur“ beginnt, und es ist wohl auch nicht sehr sinnvoll. Dass ein Roman angenehm zu lesen ist, ist da bestimmt kein Ausschlusskriterium. Ich mochte das Buch, der kleine Restvorbehalt, den ich habe, ist wahrscheinlich mehr Gefühls- beziehungsweise Geschmackssache.

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      • Nun, eigentlich teile ich nämlich deinen Eindruck – ich komme nur nicht dahinter. Beispiele helfen mir da manchmal. Vielleicht hätte ich noch Jonathan Franzen „Crossroads“ nennen sollen, das hat mich nachdrücklich beeindruckt, ganz anders als Edgar Selge. Vielleicht hat es etwas mit nachhallendem Weiterarbeiten zu tun – und viele Bücher verhallen, und ob sie nachhallen, weiß man ja erst viel später. Nur so ein Gedanke! Viele Grüße.

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