Dmitrij Kapitelmans Buch Eine Formalie in Kiew kann man in wenigen Stunden leicht und locker, mit einigem Vergnügen und ohne allzu großes Kopfzerbrechen weglesen. Dennoch war es für mich aus einigen Gründen etwas mehr als nur eine unterhaltsame Lektüre zwischendurch. Vor allem, weil das Buch ganz ohne Zutun des Autors durch die aktuellen Ereignisse zusätzliches Gewicht bekommen hat.
Ein Buch mit dem Schauplatz Kiew liest sich seit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine natürlich ganz anders als vor dem 24. Februar 2022. Wenn Kapitelman darin Straßen, Plätze und Menschen seiner Geburtsstadt beschreibt, dann sind die erst wenige Monate alten Passagen nun plötzlich überholt und zu Bildern aus einer Realität geworden, die es so gar nicht mehr gibt. Man muss schon schlucken, wenn man mit Kapitelman durch ein lebendiges, nicht sorgenfreies, aber irgendwie „normales“ Kiew zieht und weiß, dass diese Welt seither auf grausame Weise angegriffen und zu einem wichtigen Teil zerstört wurde. Dass das Land, das er so ironisch wie liebe- und hoffnungsvoll als im Aufbruch befindlich beschreibt, zerschossen wird. Dass Menschen, die in seinem Buch vorkommen, mittlerweile möglicherweise aus Angst vor Bomben in U-Bahn-Schächten geschlafen haben, auf der Flucht sind oder – wie es bei Dmitrijs Jugendfreund Rostik tatsächlich der Fall ist – sich Kampftruppen angeschlossen haben. Innerhalb sehr kurzer Zeit hat sich Eine Formalie in Kiew von einer leichthändigen Culture-Clash-Studie zu einem historischen Dokument einer anderen, besseren Zeit verwandelt. In die Komik mischt sich tiefe Trauer.
Mit dem Wissen von heute ein anderes Buch
Und Passagen, die darauf hindeuten, wie die jetzige Eskalation bereits in einem acht Jahre währenden, von uns aber großteils vergessenen Krieg seit der Annexion der Krim angelegt war, betrachtet man als Leser mit dem heutigen Wissen mit verstärkter Aufmerksamkeit.
Kapitelman legt mit Eine Formalie in Kiew bereits sein zweites autofiktionales Buch vor, in dem es um die Themen Familie, Migration sowie Suche nach Identität und Zugehörigkeit geht, geschildert jeweils anhand einer Reise. Ging es in seinem Erstling Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters um einen Trip nach Israel, führt der Weg dieses Mal nach Kiew. Hier wurde Dmitrij Kapitelmann 1986 als Sohn eines russischsprachigen Juden und einer Moldawierin geboren. Als Dmitrij acht Jahre alt war, wanderte die Familie nach Deutschland aus und landete schließlich in Leipzig.
Ausgangspunkt seines zweiten Buchs ist nun, dass der 32-jährige Dmitrij die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben möchte. Im Zuge seines Einbürgerungsverfahrens wird von ihm eine Apostille verlangt, die behördlich die Echtheit seiner Geburtsurkunde bestätigt – und dazu muss er in die Ukraine. Das Land seiner Geburt ist ihm eigentlich fremd, nur einige vage Kindheitserinnerungen und Mahnungen der Eltern und anderer Bekannter, die mit ihrem eigenen Land höchst kritisch ins Gericht gehen, begleiten ihn. Die deutsche bürokratische Übergründlichkeit mit immanenter Abwehrhaltung karikiert Kapitelman dabei ebenso wie die eigene Angst von dem Fremden, das doch eigentlich sein „Eigenes“ sein müsste. Auch wenn er immerhin stolz sein Wissen hervorhebt, dass in der Ukraine ein Hotelzimmer im „dritten Stock“ nach deutscher Definition im „zweiten Stock“ wäre, weil die Osteuropäer das Erdgeschoß mitzählen, bewegt sich Dmitrij in seiner Geburtsstadt eben nicht wie ein Fisch im Wasser. Stattdessen fragt er sich bang, wie er inmitten unterstellter allgegenwärtiger Korruption etwas erreichen soll. Dass sich die Annahme, die Apostille sei nur mit Schmiergeld zu erlangen, als Vorurteil erweist, ist ein entlarvender und für die Zukunft und Ambitionen der Ukraine Hoffnung machender Clou. Und gleichzeitig ist im Spannungsbogen des Buchs damit erst einmal die Luft raus.
Ab der Hälfte ein Familienroman
Von da an nimmt die Handlung noch einmal eine ganz andere Wendung. Dmitrijs Vater Leonid reist ihm nun nach Kiew nach, weil er sich dort medizinisch behandeln lassen will. Er hat in Deutschland seine Krankenkassenbeiträge nicht bezahlt, muss sich auf eigene Kosten versorgen lassen – und das, meint er, ist in der Ukraine günstiger als in Leipzig. Viel schwerer als die benötigten neuen Zähne fallen dabei seine geistige Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit ins Gewicht. Ist es Alzheimer? Es wird sich herausstellen, dass Leonid einen Schlaganfall erlitten hat, der unerkannt geblieben ist.
Die nun beginnende Odyssee durchs marode ukrainische Gesundheitswesen, in dem ohne Beziehungen und Schmiergeld tatsächlich nichts zu gehen scheint, ist der Rahmen für die Geschichte einer Familienzusammenführung. Dmitrij nähert sich den Eltern, mit denen er zuvor zerstritten war, wieder an, in der Notsituation entsteht neues gegenseitiges Verständnis.
Auf dieser Ebene hat mich das Buch an vielen Stellen sehr bewegt. Dmitrij Kapitelman hat einen überaus warmherzigen, anrührenden Blick auf die Menschen. Wenn er spöttisch all die Marotten und Schwächen seiner Eltern ausleuchtet, spürt man doch in jedem Satz seine tiefe Liebe zu ihnen, vor allem zum Vater. Dann liegen Komik und Tragik oft auf wunderbare Weise dicht beisammen, das geht ans Herz.
Zugehörigkeit und Verbundenheit
In Dmitrijs Wunsch, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, schwingt neben rein praktischen Erwägungen auch das Bestreben mit, sich von den Eltern zu distanzieren. Sie haben ihn stets etwas abwertend als „Deutschen“ qualifiziert, der vieles von ihrem kulturellen Wissen gar nicht nachvollziehen könne – nun, dann will er das eben auch offiziell sein. Gleichzeitig erkennt er vieles vom bekrittelten „Migranten-Verhalten“ seiner Eltern als Zeichen ihrer Überforderung, nachdem ihnen die Auswanderung Sicherheit und Status genommen hat – und als Teil seiner selbst.
Als zweite Generation einer Auswandererfamilie fühlt Dmitrij weder hier noch dort vollkommene Zugehörigkeit – und da ist der weitere Teil seiner „kulturellen Identität“, das Jüdische, hier noch gar nicht mal ausbuchstabiert (wenn auch pointiert angedeutet). Und doch kann er hier wie dort auch Verbundenheit erleben. Überraschend, etwas verstörend, aber auch irgendwie erleichternd ist es da, wenn es seiner so selbstgewissen Mutter Vera in ihrer vermeintlichen Heimat Kiew teils genauso ergeht. Auf der Straße wird sie plötzlich als Ausländerin identifiziert – das Vierteljahrhundert in Deutschland scheint man ihr irgendwie anzumerken. Die differenzierte und gleichzeitig humorvolle Verhandlung von Themen kultureller Identität ist sicher eine weitere Stärke von Eine Formalie in Kiew.
In dieser Hinsicht sehe ich in Kapitelmans zweitem Buch allerdings eine gewisse Wiederholung von Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, das dieses Thema aus meiner Sicht noch etwas besser und gründlicher ausgestaltet hat. Auch die Beziehung zum Vater ist dort deutlicher spürbar. Vielleicht wollte sich Kapitelman in seinem zweiten Buch nun verstärkt der Mutter zuwenden, doch die wird längst nicht so spürbar – und irgendwie gerät der Otez (russisch: Papa) dann doch wieder zum heimlichen Protagonisten, den der Leser ins Herz schließt.
Stilistisch bietet Kapitelman wieder viel Wortwitz auf – worüber ich an einigen Stellen lachen konnte, was mir aber auch mitunter zu viel wurde. Die Sprachspielereien waren mir teils zu ausgestellt, ihr Charme verbrauchte sich für mich in der Wiederholung allmählich, da stehe ich auf etwas mehr Understatement. Was Kapitelman aber hervorragend ausspielt, ist seine Position, mit dem Wechsel zwischen zwei Sprachen jonglieren zu können. Da nimmt er etwa eine gelungene Außenperspektive auf das Deutsche ein, indem er sagt: „Frischluft ist eine fast so feine deutsche Vokabel wie Fruchtfleisch.“ Und besonders charmant wird es, wenn er die deutsche Sprache durch wörtliche Übertragung russischer Wendungen bereichert, wie „entdanken“ als Synonym für bestechen oder „sich selbst in die Hände nehmen“ für „auf sich allein gestellt sein“. Insofern spiegelt das Buch sprachlich das Thema des Reichtums einer multikulturellen Gesellschaft wider.
- Dmitrij Kapitelman, Eine Formalie in Kiew, Hanser Berlin, 177 Seiten, als E-Book 15,99 Euro, als gebundenes Buch 20 Euro.
Vielen Dank für die gelungene Rezension der »Formalie in Kiew«, wirklich sehr interessant und vielfältig.
Danke auch für den Hinweis auf das weitere Buch des Verfassers – wird vorgemerkt.
Ich habe in meiner eigenen Rezension der »Formalie in Kiew« andere Schwerpunkte gesetzt.
Das halte ich für ganz normal, weil gute Literatur immer viele unterschiedliche Aspekte bietet:https://mittelhaus.com/2022/08/22/dmitrij-kapitelman-eine-formalie-in-kiew/
Deinen Blog empfinde ich als sehr vielfältig, und werde dort noch einige Zeit beim Stöbern verbringen.
Grüsse aus Berlin nach München.
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Danke für die netten Worte! Ja, auch wenn sich die „Formalie in Kiew“ lustig und kurzweilig lust, stecken doch viele interessante Gedanken drin.
Ich werde mich auch sehr gern auf Deiner Seite umsehen.
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