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Es ist ein sehr dunkles Kapitel amerikanischer Geschichte, das Colson Whitehead in seinem Roman Die Nickel Boys beleuchtet: Willkürherrschaft, Missbrauch und Misshandlungen bis hin zum Mord in sogenannten Besserungsanstalten für jugendliche Straftäter. Beim Lesen hat sich mir mehr als einmal die Kehle zugeschnürt vor Entsetzen und Empörung über so viel Unrecht und Rassismus, und vor Mitgefühl, zuvorderst mit der Hauptfigur Elwood Curtis. Colson Whitehead hat den harten, auf historischen Tatsachen beruhenden Stoff meisterhaft in eine zutiefst bewegende fiktive Erzählung überführt.

Archäologiestudenten, die vor der Entwicklung eines neuen Büroviertels den Untergrund des vorgesehenen Areals untersuchen, stoßen bei ihren Arbeiten auf menschliche Überreste. Es handelt sich offenbar um einen Friedhof: Hier wurden einst an geheimer Stelle die Leichen von Insassen der ehemaligen Nickel Academy beerdigt – oder, besser gesagt, verscharrt. Die Knochen weisen deutliche Hinweise auf Gewalteinwirkung als Todesursache hin. Es ist ein Blick in einen lange verborgenen Abgrund der Vergangenheit. Diesen Ausgangspunkt seiner Erzählung entlehnte Colson Whitehead unmittelbar realen Ereignissen, nämlich der Aufarbeitung der Geschichte der Dozier School for Boys in Marianna, Florida.

Der Inbegriff der Rechtschaffenheit

Von hier aus geht der Autor rund 50 Jahre zurück und rollt die individuelle Geschichte des 16-jährigen Elwood Curtis auf, der in den 1960er-Jahren bei seiner Großmutter in Tallahassee aufwächst. Er ist der Inbegriff von Zuverlässigkeit und Rechtschaffenheit, von Idealismus, gepaart mit Naivität. Elwood liest für sein Leben gern Comics und hört sich auf Schallplatte Reden von Martin Luther King an. Wenn er im Hotel Richmond, wo seine Großmutter putzt, in der Küche in einen sportlichen Spülwettstreit mit den dortigen Angestellten tritt, merkt er nicht, dass er auf den Arm genommen und nur zum Erledigen der Arbeit ausgenutzt wird. Er ist überzeugt, als Teil der Bürgerrechtsbewegung zu mehr Rassengerechtigkeit beitragen zu können.

Als guter Schüler, der er ist, vermittelt ihm sein Lehrer die Chance an der Teilnahme an Vorlesungen am College. Doch auf dem Weg dorthin ereilt ihn das Unglück. Als Tramper fährt er in einem Auto mit, das sich als gestohlen erweist. Die Polizei hält den Wagen an, die rassistische Willkürjustiz nimmt ihren Lauf, und Elwood landet unschuldig in der Besserungsanstalt Nickel Academy.

In der Nickel Academy regiert die Willkür

Auch dort vermag er kurzzeitig noch an die Fassade zu glauben: daran, dass hier junge Menschen durch Unterricht, Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten und einen guten Lebensstil auf den Pfad der Tugend zurückgeführt würden; und dass jeder eine faire Chance habe, durch gute Führung und kooperatives Verhalten die Zeit in der Anstalt erträglich und kurz zu gestalten. Das Gegenteil ist der Fall, wie Elwood sehr schnell auf überaus grausame Art lernen muss. Hier werden die Leben junger Menschen auf alle Zeiten zerstört. Die Verantwortlichen bereichern sich, die Aufseher leben ungehindert ihren Sadismus aus, Willkür und Brutalität regieren. Und für die schwarzen Insassen ist alles noch einmal um ein paar Umdrehungen schlimmer als für die weißen, von denen sie streng getrennt sind.

Elwood mit seinem Gerechtigkeitsideal hat dabei in der Anstalt einen Gegenpol in seinem Freund Turner, der abgeklärt und illusionslos auf die Welt und insbesondere aufs Nickel blickt und damit besser gewappnet scheint, seine Zeit dort irgendwie zu überleben.

Mitunter ist es schwer erträglich, von den himmelschreienden Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten zu lesen, die im Nickel Alltag sind. Gerade den unschuldigen Elwood möchte man am liebsten sofort aus dieser Hölle retten, aber auch mit vermeintlich unsympathischen Figuren leidet man als Leser mit. Colson Whitehead muss dabei beileibe nicht auf die Tränendrüse drücken, um den Leser zu bewegen. Seine Sprache ist lakonisch und knapp.

Aber einige dramaturgische Kniffe, die die Emotionalität erhöhen, wendet der meisterhafte Erzähler doch an, und das höchst gekonnt. Er leitet geschickt die Erwartungen und Hoffnungen des Lesers, um das Geschehen umso erschütternder zur unvermeidlich schlimmen Pointe zu führen. Colson Whitehead erzählt einfach und unprätentiös und doch effektvoll und mit höchster Raffinesse. Der Roman ist im besten Sinne aufwühlend.

Die Wurzeln des Rassismus

Und Menschen aufzuwühlen, ist bei diesem Thema auch dringend nötig. Denn viel zu lange hat die Gesellschaft bei solchen himmelschreienden Grausamkeiten weggesehen und vermocht, sie bequem auszublenden. Sei es nun beim realen Vorbild, der Dozier School for Boys, wo die Verantwortlichen offenbar auch über Jahrzehnte unbehelligt ihrem Treiben nachgehen konnten, sei es zum Beispiel bei katholischen Schulen in Kanada, die indigene Kinder an die weiße Mehrheitsgesellschaft „anpassen“ sollten – wovon nun ebenfalls anonyme Massengräber künden, die man im Nachhinein entdeckt hat.

Möglich gemacht haben solche Vorgänge nicht nur der Sadismus und die Selbstsucht der unmittelbar Beteiligten, sondern auch die Gleichgültigkeit und Ignoranz einer Welt, die aktiv weggeschaut hat. Das macht Colson Whitehead mit seinem Roman eindringlich klar und ist damit ein aufrüttelndes Plädoyer dafür, genau auf die Behandlung Benachteiligter zu schauen und sie zu stoppen. Dabei geht es nicht nur um explizite Gewalttaten. Whitehead zeigt mit den Nickel Boys auch, wie tief verwurzelt Diskriminierung und – mal handfester, mal subtiler – Rassismus sind, und sensibilisiert für die Narben, die eine ganze Gesellschaft bis heute trägt. Und die im Alltag noch ganz schön weh tun können, auch wenn man nicht selbst im Nickel war.

  • Colson Whitehead, Die Nickel Boys, Aus dem Englischen von Henning Ahrens, Hanser, 224 Seiten, 23 Euro. Auch erhältlich als Taschenbuch: btb, 12 Euro.

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