Nein, ein Corona-Roman ist das nicht. Zumindest nicht direkt. Aber Inmitten der Nacht von Rumaan Alam wirft doch einige Fragen auf, die gerade höchst aktuell sind. Nämlich: Ist in einer Ausnahmesituation mit gesellschaftlicher Solidarität zu rechnen, oder bricht der Kampf eines jeden gegen jeden aus? Wie gehen wir mit Ungewissheit und Kontrollverlust um? Dem Kontrollverlust über eine Welt, die so komplex geworden ist, dass wir sie in Wirklichkeit kaum noch verstehen können? Rumaan Alam behandelt diese Thematik in einer insgesamt ungemütlichen Mischung aus Thriller und Gesellschaftssatire. Der Roman bietet dem Leser keinerlei tröstliche Gewissheit als Ankerpunkt und ist trotzdem ungemein fesselnd.
Im Mittelpunkt des Romans steht das Ehepaar Clay und Amanda, das mit seinen pubertierenden Kindern zu einem Ferienaufenthalt nach Long Island aufbricht. In einem über Airbnb gemieteten, sehr abgeschiedenen Ferienhaus will das Paar für ein paar Tage das Großstadtgetöse und den Alltag hinter sich lassen, Leave the world behind, wie der Originaltitel des Romans heißt. Doch das Idyll wird gleich zu Anfang gestört, als mitten in der Nacht ein schwarzes Ehepaar vor der Haustür steht. Ruth und G.H. stellen sich als Eigentümer des Hauses vor und bitten um Unterschlupf. Ihrer Schilderung zufolge hat es in New York einen großen Stromausfall gegeben, das Paar hat sich, zumal seine Wohnung im 14. Stock ohne Aufzug unerreichbar geworden ist, aus den erwarteten chaotischen Zuständen in sein Haus auf dem Land geflüchtet.
Da im Ferienhaus Fernseh- und Internetempfang zusammengebrochen sind, kann die frisch und wider Willen zusammengewürftelte Schicksalsgemeinschaft nur spekulieren, was da draußen in der Welt eigentlich los ist und was nun auf sie zukommen könnte. Auch der Leser, so viel sei verraten, wird bis zum Schluss mit dieser Ungewissheit leben müssen. Es gibt allenfalls Andeutungen sowie deutungsbedürftige Hinweise, und es wird klar: Die Welt ist nicht mehr dieselbe – auch wenn es sich die Bewohner des isolierten Ferienhauses noch eine Weile einreden können. Diese schwebende Bedrohung macht den verstörenden Effekt des Romans aus, der sehr geschickt und einfallsreich mit immer neuen rätselhaften Motiven spielt. Rumaan Alam produziert dabei einige Bilder, die – auf den ersten Blick vielleicht harmlos wirkend – doch eine schwer greifbare Bedrohlichkeit bergen, die man als Leser nicht so schnell aus dem Kopf bekommt. Stichwort: Rehe und Flamingos.
In dieser Hinsicht hat mich Inmitten der Nacht an Marlen Haushofers Die Wand erinnert – ebenfalls eine Dystopie, die dem Leser Antworten verwehrt, aber jede Menge Interpretationsansätze von konkret bis metaphorisch anbietet. Die Neugier, vielleicht doch noch einen Hinweis auf des Rätsels Lösung zu erhaschen, treibt den Leser durch die Seiten. Der Autor baut dabei immer neue Spannungsmomente auf.
Besonders gefallen hat mir Inmitten der Nacht aber auch als durchaus beißende Gesellschaftssatire. Gerade Clay und Amanda nimmt der Autor mit feiner Ironie als typisches konsumorientiertes weißes Mittelschichtspaar aufs Korn, etwa in der fast ausufernden Schilderung ihres Supermarkt-Einkaufs für die ersten Ferientage. Man gibt sich moderat umweltbewusst, man gibt sich liberal – doch in den Moment, da das schwarze Ehepaar vor der Tür steht, kommen hinter der Fassade rassistische Ressentiments zu Tage. Kann es denn überhaupt sein, dass Schwarze die Eigentümer eines so schönen Hauses sind? Handelt es sich nicht doch um Betrüger?
Wie sich die vier erwachsenen Hauptfiguren mit ihren doch recht divergierenden Lebensphilosophien mit Reibungen und Spannungen und dann wieder unerwarteten Bündnissen zu einer Gruppe zusammenfinden, hat dann mit seinen treffenden Dialogen wieder etwas Kammerspielartiges à la Gott des Gemetzels. Gemeinsam haben die Figuren, dass sie der Aufgabe, ihre Situation richtig einzuordnen, recht hilflos gegenüberstehen. Etwas Halb- oder Korridorwissen, viel Ahnungslosigkeit, wie eigentlich die Alltagstechnik, die einen umgibt, funktioniert, eine große Abhängigkeit von Handy oder Navi: Das ist das ganze Rüstzeug, das ihnen zur Verfügung steht. Letztlich sind sie hilflos – in der modernen Welt allgemein wie in ihrer konkreten Situation. Ist dieses Ausgeliefertsein nicht auch der Boden, auf dem heute so üppig allerlei abstruse Verschwörungstheorien gedeihen? Weil einfache Antworten, so absurd sie sein mögen, immer noch leichter zu verkraften sind als das Eingeständnis, vieles nicht zu überblicken und selbst in der Hand zu haben?
Rumaan Alams Roman ergibt somit eine interessante, zeitgemäße Mischung und ist doch etwas ganz Eigenes. Es verwundert nicht, dass Inmitten der Nacht ein Finalist des National Book Award 2020 und – unterstützt durch die Aktualität einer in der Corona-Krise ebenfalls aus den Fugen geratenden Welt und eine Empfehlung durch Barack Obama – zum New-York-Times-Bestseller wurde. Netflix hat sich die Filmrechte gesichert, Julia Roberts und Denzel Washington übernehmen die Hauptrollen.
Dass er sich so spannend und kurzweilig wegliest, macht ihn durchaus massentauglich. Gleichzeitig ist er schwer einzuordnen. Dieses Hybride und der unbehagliche Grundtenor, die tendenziell unsympathischen Figuren und dass er am Ende eine Auflösung verweigert, wird es dem Roman hierzulande vielleicht schwer machen, das breite Publikum zu begeistern, das entweder einen klassischen Thriller oder aber eine intellektuelle Dystopie sucht. Mir persönlich aber haben die Offenheit, Ironie und Mehrdeutigkeit von Inmitten der Nacht gut gefallen.
- Rumaan Alam, Inmitten der Nacht, Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, btb Verlag, 320 Seiten, 22 Euro.