Er kann gebückt, sodass ihn niemand sieht, durchs Unterholz streifen. Und er kann dabei so leise sein, dass kein Ästchen knackt, sodass keiner ihn hört. Er weiß, wie man in freier Natur einem Grizzly entgegentritt und wie man einen Elch oder einen Schwarzhirsch erlegt. Richtet er sich in der Natur einen Unterschlupf aus Geäst ein, achtet er am folgenden Tag darauf, alles wieder genau so zu hinterlassen, wie er es vorgefunden hat – aus Respekt vor der Natur.
Franklin Starlight trägt viel traditionelles indianisches Wissen in sich. Und doch fühlt sich der 16-Jährige, der von der Abstammung her der Ethnie der Ojibwe angehört, wurzellos. Denn den Vater, einen alkoholkranken Wanderarbeiter, hat er in seinem Leben nur sporadisch gesehen – und dann meist in betrunkenem Zustand. Und wer seine Mutter ist, weiß er nicht.
Von einer schwierigen Identitätssuche und einer Annäherung zwischen Vater und Sohn erzählt Richard Wagamese auf einfühlsame Art in seinem Roman Das weite Herz des Landes – einem der letzten des 2017 verstorbenen kanadischen Autors, der selbst indigener Herkunft war. Die Wärme und Klugheit, die durch eine oft raue Fassade scheinen, vor allem aber die schöne Sprache, die mit wenigen Worten viel sagt, haben mir das Gefühl gegeben, hier einem großen Autor zu begegnen. Kleine Abstriche in der B-Note gibt’s von mir höchstens für die Handlung. Die ist zwar streckenweise sehr bewegend, aber es blitzt auch vereinzelt Kitsch-Verdacht auf.
Die Geschichte führt uns in die weite Landschaft Kanadas. Hier wächst Franklin, kurz Frank, bei einem Ziehvater auf, der nur „der Alte“ genannt wird. Der leibliche Vater, Eldon Starlight, kommt höchstens sporadisch zu Besuch oder bestellt den Jungen in die nahe gelegene Stadt, wo ihn der Vater in einem heruntergekommenen Männerwohnheim empfängt, die Flasche in der Hand und gerne auch mal eine Prostituierte neben sich im Bett. Eines Tages hat Eldon eine Bitte an seinen 16-jährigen Sohn. Er möge ihn an eine Stelle in den Bergen geleiten, wo die Ojibwe nach alter Sitte mit Blick in Richtung Sonnenuntergang im Sitzen beerdigt werden [nach Hinweis aus meinem Lesekreis muss ich korrigieren: mit Blick in Richtung Sonnenaufgang]. Denn Eldon fühlt seine Stunde kommen. Die geschundene Leber macht wohl nicht mehr lange mit.
Obwohl er diesem Mann, der als Vater ein Totalausfall war, nun wahrlich nichts schuldig ist, lässt sich Frank darauf ein. Der zunehmend hinfällige Vater und der naturkundige Sohn ziehen nun mit einem Pferd Richtung Westen. Und unterwegs eröffnet Eldon dem Jungen endlich, endlich seine Lebensgeschichte – und damit auch die Geschichte von Franks Herkunft.
Sehr gefallen haben mir an Wagameses Roman die gebrochenen, nach außen schroffen Hauptfiguren. Nein, die drei Männer sind wahrlich keine Plaudertaschen. Und doch kommt in den abgehackten Dialogen viel zum Ausdruck: die liebevolle Komplizenschaft zwischen Frank und dem „Alten“ zum Beispiel – und gleichzeitig die Last, die zwischen ihnen steht: nämlich dass auch „der Alte“ nie damit herausgerückt ist, wer eigentlich Franks Mutter war und warum er bei dem Ziehvater aufgewachsen ist.
Eldon scherzt und plappert in betrunkenem Zustand da schon mehr. Aber er redet eben nur und sagt nichts. Nichts von dem, was ihn zu dem menschlichen Wrack gemacht hat, das er ist.
Und Frank ist ohnehin eine beeindruckende, vielschichtige Figur. Wortkarg, wie er ist, spricht er durch seine Handlungen. Die Fürsorge für den Vater etwa, auf den wütend zu sein er allen Grund hat und es auch ist. Doch trotz allem hat Frank sich Empathie bewahrt, und damit zeigt er Größe. Zudem zeichnet er sich durch Achtsamkeit gegenüber der Natur und eine tiefe Lebensklugheit aus. Die bringt er immer wieder in knappen, halb unbeholfenen Worten zum Ausdruck und wirkt damit trotz seiner jungen Jahre oft wie ein alter, weiser Indianer.
Das kaschiert aber mehr schlecht als recht seine existenzielle innere Verunsicherung. Äußerlich als Indigener erkennbar, ist er Diskriminierung ausgesetzt und scheint nicht in die „weiße“ Mehrheitsgesellschaft zu passen. Der Ziehvater, obwohl selbst kein Indianer, hat sich bemüht, ihm das alte Wissen und die Lebensart der Ojibwe zu vermitteln. Aber das große Loch in Franks Identität ist eben das Unwissen über Mutter und Vater.
Soweit fand ich ich die Grundkonstellation mit dem vielen Unausgesprochenen, den kantigen Charakteren in einer ebenso schroffen und gleichzeitig faszinierenden Naturkulisse und dem sanften Dahinfließen der Erzählung sehr ansprechend.
Dann kommt mit der Entblätterung von Eldons Lebensgeschichte gerade rechtzeitig der nötige Zug in die Handlung. Seine Vita entpuppt sich als eine Aufeinanderfolge von Rückschlägen und Traumata. Das ist mitreißend und bewegend erzählt. Nur punktuell hat es mich nicht zur Gänze überzeugt. Die Geschichte, dass ein Sohn einen brutalen Stiefvater dabei erwischt, wie er die Mutter verprügelt, und er (beziehungsweise in diesem Fall ist es sein bester Freund) dann auf den Gewalttäter einsticht, hat man irgendwo schon mal gehört. Ich bin endgültig stutzig geworden, als ich zufällig mitbekam, dass es im neuen Roman von John Grisham, Der Polizist, fast den gleichen Plot gibt – Achtung, Klischeeverdacht!
Auch der lang erwarteten Liebesgeschichte zwischen Eldon und Franks Mutter Angie stehe ich ein bisschen zwiespältig gegenüber. Sie hat zweifelsohne ihre zarten, anrührenden und wahrhaftigen Momente. Aber die Einführung von Angie als selbstbewusste, rassige Schönheit, die beim Tanzen allen Grobianen in der Kneipe den Kopf verdreht: Dieses Motiv könnte auch aus einem Westernschinken stammen. Nein, bei den Frauenfiguren könnten wir schon noch etwas nachbessern, Herr Wagamese!
Sehr interessant ist Angie hingegen als Repräsentantin der indigenen Tradition des mündlichen Geschichtenerzählens, an die sicher auch der Roman selbst anknüpfen will. Und Wagemese ist ein großer Erzähler, der weiß, wie man mit sparsamen Mitteln beim Leser Emotionen erzeugt. Nur, ob er das nun tatsächlich nach Art der Indianer tut oder doch eher auf einige bewährte Mittel des „westlichen“ Kanons zurückgreift, das ist für mich schwer zu beurteilen. Vermutlich ist es eine Mischung.
Als erzählerischer Meister aller Klassen erweist sich Wagamese in meinen Augen jedenfalls bei der Schilderung einer Schlachtszene aus dem Korea-Krieg – Eldons vermutlich größtes Trauma. Die höchst kunstvolle, schneidende Sprache verstärkt hier den Effekt des Beschriebenen, sodass ich aufgewühlt war wie selten beim Lesen.
Auf positive Weise unerwartet ist auch, wie Wagamese die Wechselfälle der Geschichte des 20. Jahrhunderts – Verlust des Vaters im Zweiten Weltkrieg, eigene Kriegerlebnisse im Koreakrieg – zu entscheidenden Faktoren macht, die Eldon aus der Bahn werfen. Es ist nicht das „Indianersein“ allein, das aus der Figur einen Alkoholiker macht. Eldon durchlebt Schlimmes, das auch jeden anderen Kanadier hätte treffen können.
Und doch hat es bei ihm eine besondere Tragik, dass er sein Leben für einen Kampf einsetzt, der nicht der seine ist, und für einen Staat, das ihm keinen echten Platz einräumt. Das In-den-Krieg ziehen in fernen Ländern ließe sich vielleicht als Sinnbild der Entfremdung zum Leben des Indigenen in seinem angestammten Land interpretieren.
Das Thema der schwierigen Identitätsfindung Indigener in Nordamerika, gehindert von Rassismus und Assimilierungsdruck, bleibt jedenfalls im Roman, wenn auch omnipräsent, so doch angenehm subtil und vielschichtig.
- Richard Wagamese, Das weite Herz des Landes, Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke, Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky, Blessing, 288 Seiten, 22 Euro.