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Seltsam eigentlich, dass in der Corona-Krise zwar Camus‘ Die Pest erneut zum Bestseller avancierte, ein anderes großartiges Werk der Weltliteratur, das noch passgenauer zur Aktualität der Pandemie passt, jedoch meines Wissens kein besonderes Revival erlebte: In Nemesis, dem letzten, 2010 veröffentlichten Roman von Philip Roth, erkennt der Leser mit Schaudern sehr vieles aus der Covid-19-Gegenwart wieder – nur in diesem Fall geschildert anhand einer (fiktiven) Polio-Epidemie im Jahr 1944 in Newark. Doch auch wenn Roths Buch insofern in den Jahren 2020/21 eine ungeahnte Dringlichkeit hinzugewonnen hat, sind seine Themen doch zeitlos: Verantwortung, Schuld, Vergänglichkeit – und die Frage, wie sich eine gnadenlose Realität mit dem Glauben an einen gütigen Gott zusammenbringen lässt.

Die Hauptfigur Bucky Cantor erlebt in diesem Roman hautnah die menschliche und soziale Herausforderung, vor der das Individuum und die Gesellschaft im Angesicht des Stresstests einer Epidemie stehen. Der junge Mann hat gerade als Sportlehrer an einer Schule angefangen und ist der Inbegriff des durch und durch anständigen, ernsthaften Kerls. Weil er eine dicke Brille trägt, wurde er als einer von wenigen Männern nicht zum Militär eingezogen, und so führt er in einem heißen Sommer in Newark die Ferienaufsicht auf dem Sportplatz, während seine Altersgenossen im Pazifikraum oder in Europa fürs Vaterland kämpfen.

Hier aber muss er miterleben, wie von den Jungs, die er vom Sportplatz kennt, einer nach dem anderen an Polio erkrankt. Einige sterben, andere sind an die Eiserne Lunge gefesselt, um weiteratmen zu können. In der Stadt geht die Angst um – und wir bekommen all das zum Nachlesen vorgesetzt, was wir in den vergangenen knapp zwei Jahren nun in der Corona-Krise live miterleben konnten. Die Gerüchte, die Suche nach bestimmten gesellschaftlichen Gruppen als Sündenböcke, die Spekulationen, die Bars, die in Verdacht geraten, Infektionsherde zu sein, die Sperrung von öffentlichen Orten, die Flucht aufs Land oder ins eigene Zuhause als vermeintlich sichere Häfen, die tägliche Veröffentlichung der regionalen Infektionszahlen in der Zeitung, letztlich die Hilflosigkeit, weil man sich einem unsichtbaren, unberechenbaren und nicht kontrollierbaren Feind gegenüber sieht.

Philip Roth beschreibt all das packend, wie nur er es kann. Für den Leser des Jahres 2021 ist es eine durchaus erhellende und wichtige Erkenntnis, dass die Menschheit all das nicht zum ersten Mal durchlebt – und dass die Menschen heute nicht viel anders reagieren als von jeher. Doch auf die Mechanismen einer Pandemie dürfte es dem Philip Roth des Jahres 2010, der, solange er noch lebte, nichts von Corona ahnen sollte, nicht oder nur nebenbei angekommen sein.

Für ihn ist die Geschichte der Aufhänger für große Fragen: Was ist Schicksal oder, je nach religiöser Sichtweise, Gottes Wille? Doch können all die sinnlosen Grausamkeiten das Werk eines Gottes sein? Wenn ja, was ist das für ein Gott? Wenn nein, liegt die Verantwortung dann nicht beim Menschen selbst? Und ist er überhaupt in der Lage, diese Verantwortung zu tragen? Lädt das Individuum in solch einer Krisensituation Schuld auf sich? Oder lässt sich einer bösen Bestimmung beim besten Willen nicht entkommen?

Es nimmt beinahe den Charakter einer griechischen Tragödie an, wenn Roth uns miterleben lässt, wie Bucky Cantor, dieser Inbegriff der Geradlinigkeit und des Pflichtbewusstseins, einem bösen Ende, das ihn und andere betrifft, nicht entkommt und – eben wegen seiner hohen moralischen Ansprüche – in unauslöschlichen Schuldgefühlen versinkt.

Die existenzielle Dimension, die moralische Tiefe, die Unausweichlichkeit des Geschilderten verleihen diesem Alterswerk Roths eine gewisse Schwere – was nicht heißt, dass der Roman mühsam zu lesen wäre, denn Roth erzählt wie immer auf eine ungezwungene, aber sehr effektive Art mitreißend und spannend. Doch mit Bucky Cantor wählt er diesmal einen Helden, dem (Selbst-)Ironie und Doppelbödigkeit fremd sind – und entsprechend tritt auch im Roman Roths sonstiger Humor in den Hintergrund. Und all das, was an menschlicher Wärme, an Romantik, an Sommeridyll in einem Ferienlager für Kinder (in dem übrigens Weiße einer Indianerkultur oder dem, was sie sich darunter vorstellen, frönen – vermutlich ein eigenes kulturgeschichtliches Thema innerhalb des Romans) geschildert wird, wirkt vor dem Hintergrund des schlimmen Endes vergeblich.

Ein pessimistischer Roman also? Nein, denn das Bild der menschlichen Integrität Bucky Cantors innerhalb der Widrigkeiten bleibt als Wert für sich bestehen. Vielleicht schüttelt man auch darüber den Kopf. Ist Roths Romanheld nicht am Ende unnötig hart zu sich selbst? Steht er damit seinem Glück nicht selbst im Weg?

Und damit bin ich gedanklich doch wieder zurück in der Corona-Zeit. Wir erleben auch jetzt Menschen, die eine Verantwortlichkeit für ihre Mitmenschen spüren, die sich solidarisch verhalten, sich einschränken, um nicht ihre Nächsten und die Gemeinschaft zu gefährden, für die es eine Gewissensfrage ist, niemand anderen anzustecken – auch wenn das in aller Regel gar keine Frage persönlicher Schuld ist, sondern immer die Schuld dieses vermaledeiten Virus. Doch ich würde mir eben noch ein paar mehr Zeitgenossen wünschen, die bereit sind, ein Stück persönliche Verantwortung für uns alle auf sich zu nehmen, diese Last mitzutragen, statt nur sich selbst zu sehen und Realitäten von sich zu schieben (nennen wir’s beim Namen: ein paar mehr, die sich impfen lassen und auch sonst der Solidargemeinschaft nicht zeternd den Rücken kehren). Wäre die Welt von mehr Bucky Cantors bevölkert, stünde die Menschheit auch so manchem Unglück und mancher Bedrohung stärker gegenüber. Ist sie aber nicht.

Ach ja, und: Ich vermisse Philip Roth.

  • Philip Roth, Nemesis, Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Hanser, 222 Seiten, 21,90 Euro (auch erhältlich als Taschenbuch, Rowohlt, 12 Euro).

2 Kommentare zu “Philip Roth, Nemesis

    • Ja, es passt tatsächlich gut in die Zeit. Mir ist es eigentlich nur zufällig in die Hände gefallen. Ich hatte nicht wirklich die Absicht, jetzt etwas über eine Epidemie zu lesen, aber dann konnte ich Philip Roth nicht widerstehen. Viele Grüße!

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