Eine kurze, aber intensive Lektüre und eine unerwartete Entdeckung hat mir der Roman Das Wanderkind von Aude beschert. Die zurückgenommen und intim erzählte Geschichte um ein ungleiches Zwillingspaar beleuchtet psychologisch klug die Beziehungskonstellation innerhalb einer Familie und vermag, hat man sich einmal auf den speziellen Erzählduktus eingelassen, zu berühren.
Es ist wohl dem Auftritt Kanadas als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse zu verdanken, dass dieser schmale Band, im Original erschienen 1998, mit reichlich Verspätung den Weg auf den deutschsprachigen Buchmarkt gefunden hat. Der Verlag stellt uns die Autorin Aude alias Claudette Charbonneau (1947-2012) zwar als eine der bedeutendsten Stimmen der französischsprachigen Literatur Kanadas vor. Aber vielleicht war zumindest der kleine Roman Das Wanderkind dann doch zu leise und auch nicht wirklich eingängig genug, um hierzulande wahrgenommen zu werden. Womit ich dem Buch natürlich keineswegs seine zweifellose Qualität absprechen möchte.
In Das Wanderkind erzählt Aude die Geschichte der Zwillinge Hans und Benoît – wobei letzterer nur Der Kleine genannt wird. Das hat seinen Grund: Im Mutterleib kommt es zu einer Störung im Blutaustausch zwischen den beiden Föten, sodass der eine auf Kosten des anderen alle Nährstoffe abbekommt und der andere weitgehend verkümmert. Die Ärzte sind sich fast sicher, dass das kleinere Kind bereits vor der Geburt gestorben ist. Doch nachdem der kräftige Hans das Licht der Welt erblickt hat, kommt auch der totgesagte Kleine zur Welt – schwach und zerbrechlich wie ein Vögelchen, aber lebendig.
Dieses ganz besondere Zwillingspaar zeichnet sich nun nicht nur durch eine symbiotische Beziehung untereinander aus, sondern prägt auch die Bindungen mit und unter den anderen Familienmitgliedern. Die spannende Frage ist vor allem: Wer ist hier wirklich der „Stärkere“? Der dominant auftretende Hans, der sich als eine Art Schutzmacht des Kleinen geriert und gegenüber dem Bruder so etwas wie ein Monopol auf Nähe und tiefes Verständnis beansprucht? Oder doch der zarte Kleine, von dem man zwar am Rande erfährt, dass seine körperliche Konstitution angegriffen ist, aber nicht wirklich weiß, ob der Anschein der geistigen Zurückgebliebenheit nicht doch trügt, und der jedenfalls ungewöhnliche musische und soziale Qualitäten an den Tag legt?
Mehr und mehr wird deutlich, dass Hans viel stärker auf den Kleinen angewiesen ist als umgekehrt. Der Kleine ist Hans‘ Fluchtpunkt und Existenzberechtigung. Jeglichen Ansätzen der Erwachsenenwelt, die Bande zwischen den Zwillingen ein wenig zu lösen, um jedem den Weg zu einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung zu eröffnen, weist Hans mit großer Vehemenz zurück. Er ist es, der eine Mauer um sich und den Bruder baut. Die Eltern Corinne und Pierre und schon gar nicht die vier Jahre ältere Schwester Alexandra haben die geringste Chance, in diese hermetische Blase einzudringen. Während Hans auf das Familiengebilde eher eine destruktive Wirkung zu nehmen scheint, versteht es der Kleine, mit Freundlichkeit und Offenheit und ohne große Worte alle einzubinden.
Aude erzählt die Geschichte vom Aufwachsen der Zwillinge von der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter in 29 kurzen Kapiteln, die jeweils einen Schlüsselmoment zum Ausgangspunkt haben. Von dort geht es – oft im in erzählenden Texten ungewohnten Tempus Perfekt – dann erklärend zurück zu Entstehung und Hintergründen der jeweiligen Situation. Zusammen mit der sehr schlichten, zurückgenommenen Sprache habe ich das als Erzählweise empfunden, die den Leser etwas auf Distanz hält. Es gibt wenig Szenisches, kaum Dialoge. Der Text wirkte auf mich eher wie die mit sanfter, durchaus empathischer Stimme vorgetragene, aber eben doch analytische Fallbesprechung einer Familientherapeutin, durchbrochen nur von einigen sparsam eingesetzten poetischen Passagen und Bildern.
Worauf es Aude weniger ankommt, das ist ein mitreißender Erzählfluss. Auch auf ein plastisches Szenario verzichtet sie. Die Romanhandlung steht im luftleeren Raum abseits jeglichen historischen, geografischen oder gesellschaftlichen Kontextes, ist ganz auf seine wenigen Figuren konzentriert, und hier vor allem auf Hans. Schon die Eltern und die Schwester und erst recht die Handvoll weiterer Nebenfiguren bleiben wenig ausgearbeitet. Nur schemenhaft lässt der Text erkennen, dass Hans und Benoît im sozialen Umfeld eines größeren Familienverbunds aufwachsen, zu dem auch etliche Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins gehören; dass sie in einem eher ländlichen Gebiet mit großen Waldgebieten, aber doch unweit einer Großstadt in einem Haus mit Wintergarten leben. All das bleibt abstrakt.
Umso interessanter und facettenreicher ist letztlich das fein austarierte Psychogramm Hans‘, der in seiner Dominanz und der teils schroffen Ausgrenzung anderer fast unsympathisch wirkt, dessen inneres Drama sich aber doch mehr und mehr entblättert. Verdrängte Schuldgefühle und Verantwortungsgefühl gegenüber dem Bruder erschweren ihm entgegen allem äußeren Anschein, selbst zu einer unabhängigen, selbstbewussten Persönlichkeit heranzureifen. Daneben steht der Kleine als fast märchenhaft sanfte, selbstgenügsame Figur, die inneren und äußeren Frieden ausstrahlt. Das ergibt einen reizvollen Kontrast.
Dennoch muss ich zugeben, dass mir der kurze, dichte Roman beim ersten Lesen etwas fremd blieb. Es bedurfte schon der zweiten geduldigen Lektüre, um unter der spröden Oberfläche die Tiefe und Menschlichkeit genießen zu können, die dem Text innewohnen. Am schönsten ist das Ende, das eigentlich traurig ist und doch einen optimistischen Blick auf das Leben eröffnet.
- Aude, Das Wanderkind, Aus dem kanadischen Französisch von Ina Böhme, Alfred Kröner Verlag, 142 Seiten, 16 Euro.
Umso schöner, dass Du die Geduld zu einer zweiten Lektüre hattest – das freut mich sehr, denn ich mag dieses Buch – und nicht nur deshalb, weil ich natürlich beruflich befangen bin – sehr aufgrund seiner Sprödigkeit und dem, was es dahinter zu entdecken gibt.
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