Wie war die Welt eigentlich vor Corona? Nach gut eineinhalb Jahren Pandemie muss man das ja schon fast nachlesen, um sich zu erinnern. Und wenn man es sich vor Augen führt, erscheint es einem beinahe surreal.
Vor diesem Hintergrund hat der kleine, feine Roman Turbulenzen von David Szalay bald nach seinem Erscheinen 2018 unversehens einen neuen Status hinzugewonnen: als Sittengemälde einer soeben untergegangenen Zeit. Der Autor portraitiert eine globale Lebensweise, die Covid-19 in kürzester Zeit ausgebremst hat – und von der man nicht weiß, ob man sich wünschen soll, dass sie nach der Pandemie in dieser Form wieder Fahrt aufnimmt. Es geht um eine Epoche, in der es ganz normal ist, mal eben in den Flieger zu steigen, um in New York shoppen zu gehen, in London einen Vertrag zu unterschreiben oder in Lima an einer Familienfeier teilzunehmen.
Die zahlreichen Figuren in Szalays Roman legen jeweils eine solche Flugstrecke zurück. Die zwölf kurzen Kapitel sind mit internationalen Airport-Kürzeln für die Verbindungen überschrieben. Da geht es in „LGW – MAD“ von London-Gatwick nach Madrid, dann in „MAD – DSS“ von Madrid nach Dakar, anschließend von Dakar nach São Paulo und so fort einmal um den ganzen Globus, bis im letzten Kapitel die Reise von Budapest zurück nach London führt.
Unterwegs kommt es zu mal schicksalhaften, mal flüchtigen, oft unwahrscheinlichen Begegnungen. Aus einer Nebenfigur in einem Kapitel wird an einem anderen Schauplatz die Hauptfigur des nächsten. Das ist ein überaus reizvolles Konstruktionsprinzip, bei dem man als Leser ständig mitgenommen wird und – Achtung, Wortspiel! – durch die Seiten fliegt.
Und so kann man die 136 lose bedruckten Seiten ohne Weiteres an einem Nachmittag weglesen. Dabei sollte man aber aufpassen, dass man vor lauter unterhaltsamer, spannender Handlung nicht die überraschend vielen Untiefen übersieht, die der vermeintlich so luftige Text bereit hält. Der Autor tupft das jeweilige Schicksal seiner Figuren immer nur in kurzen Sequenzen von acht bis zehn Seiten hin und leuchtet die Geschichten insofern nicht bis in den letzten Winkel aus. Aber Szalay beherrscht die Kunst, Konstellationen und Konflikte in ein paar kurzen, schlichten Sätzen zu verdichten und in Schlüsselszenen auf den Punkt zu bringen.
Jede der zwölf Geschichten wartet dabei mit einer mehr oder minder spitz zulaufenden Pointe auf. Gemeinsam haben die Figuren, dass sie in Turbulenzen des Lebens geraten. Sie sind mit Krankheit oder Tod konfrontiert – wie die in Madrid lebende Mutter, die nach einem Besuch bei ihrem an Prostatakrebs leidenden Sohn in London heimfliegt, aus Flugangst drei Bloody Mary trinkt und die (wörtlichen) Turbulenzen entsprechend schlecht übersteht. Unvorhergesehene Ereignisse stellen Existenzen in Frage – wie bei einer 60-jährigen Universitätsdozentin aus Hongkong, die sich in ihren Arzt verliebt und damit 40 Jahre Ehe auf den Prüfstand stellt.
Doch in Szalays Roman geht es nicht nur um die privaten Scheidewege, vor denen Menschen stehen. Die Besonderheit ist der Kontext der globalisierten Welt, in dem sich alles abspielt und deren Chancen und Probleme der Autor unaufdringlich ins Spiel bringt.
Ob man die Menschen, die diese Welt bewohnen, nun als frei oder wurzellos bezeichnen möchte, liegt im Auge des Betrachters und hängt auch von den individuellen Umständen ab. Einige von ihnen jetten um die Welt, weil sie in gehobener Position in internationalen Konzernen tätig sind oder sozial so privilegiert, sich einen schönen Ort auf dem Planeten zum Wohnen oder Studieren auszusuchen. Andere verschlägt es durch Arbeitsmigration und Flucht in Länder fern der Heimat.
Das führt zu Aufeinandertreffen mit Reibungspotenzial. Eine Auslands-Studentin in Budapest eröffnet ihrer aus Dubai eingeflogenen deutschen Mutter, dass sie einen syrischen Flüchtling heiraten möchte. Szalay macht kein großes Familiendrama daraus, lässt nur in einigen Bemerkungen oder Nicht-Bemerkungen die Ängste und Vorurteile der sich weltoffen gerierenden Mutter durchscheinen. Berührungsängste und mehr oder minder unterschwelliger Rassismus manifestieren sich in anderen Geschichten in scheinbar banalen, alltäglichen Details. Was soll man davon halten, wenn der deutsche Pilot nach einem anonym-unverbindlichen Online-Date der Dame eröffnet, sie sei die erste Schwarze, mit der er geschlafen hat?
Am sichtbarsten werden die Gräben dort, wo nicht die große geografische Distanz, sondern das soziale Gefälle die Menschen schier unüberbrückbar voneinander trennt. Keine Ahnung hat die Dubaier Villenbesitzerin von der Lebenswelt ihres indischen Gärtners, den sie für 100 Dollar im Monat beschäftigt und im Gartenschuppen schlafen lässt. Und keine Ahnung hat wiederum dessen Ehefrau in Indien, dass der unerträgliche, gewalttätige Macho, der alle zwei Jahre nach Hause kommt, in eben jenem Dubaier Geräteschuppen mit dem Angestellten der Nachbarvilla schläft.
Am besten gefallen mir in Turbulenzen die Episoden, die nicht mit einem überraschenden Twist in der Handlung punkten wollen, sondern subtiler die Menschen in ihrer Einsamkeit und Leere in der modernen Welt zeigen. Pilot Werner trägt die Erinnerung an die kleine Schwester Liesl mit sich um den Globus. Sie ertrank, als beide kleine Kinder waren. Als er es einem Kollegen gegenüber erwähnt, erzeugt er damit nur ein nur kleine peinliche Situation im Job. Er hatte doch noch nie andere mit privaten Informationen behelligt. Was soll der Kollege, der ihm vermutlich nur hie und da bei einer zufälligen Übereinstimmung der Flugpläne begegnet, nun mit dieser Information anfangen?
Vor dem Kontrast des folgenden Corona-Stillstands zeichnet sich die Rastlosigkeit, die wir in Turbulenzen sehen, nun noch einmal deutlicher ab. Ein Teil davon aber hat sich auch durch die Pandemie nicht verändert oder wird zurückkommen. Vieles lohnt sich zu überdenken. Im Sinne des Klimaschutzes ist zu hoffen, dass das exzessive, billige und bedenkenlose Fliegen in dieser Form nicht wieder zum Alltag wird.
Was aber bleibt, ist, dass wir alle auf einem Planeten leben, der enger zusammengerückt ist, in dem wir lernen müssen, miteinander zu leben, einander zu sehen und zu respektieren, auch wenn der andere – ob er nun tausende Kilometer entfernt oder um die Ecke lebt – sehr weit weg von uns zu sein scheint. Insofern ist David Szalays Roman nicht nur historisch relevant, sondern hochaktuell.
- David Szalay, Turbulenzen, Aus dem Englischen von Henning Ahrens, Carl Hanser Verlag, 136 Seiten, 19 Euro.