Auch wenn es mittlerweile doch schon Jahrzehnte her ist: Das pubertätstypische Gefühl, irgendwie „anders“, unverstanden und ausgegrenzt zu sein, ist mir in lebhafter Erinnerung. Und, mal ganz ehrlich, es begleitet mich in gewissen Situationen bis heute, und sicher nicht nur mich. Dieser Empfindung des unfreiwilligen Außenseitertums verleiht Sara Mesa in ihrem Roman Cara de pan (deutscher Titel: Quasi) feinfühlig Ausdruck. Gleichzeitig ist die Geschichte ein Plädoyer für einen unvoreingenommenen, vorurteilslosen Blick: auf jeden einzelnen Menschen, aber auch auf Beziehungen, die sich den üblichen Kategorisierungen entziehen.
Mit ihrem kurzen, aber vielschichtigen Roman kratzt die spanische Autorin an einem Tabu: Sie stellt die Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einem Mann fortgeschrittenen Alters in den Mittelpunkt. Wem kämen da nicht spontan Nabokovs lüsterner Humbert Humbert mit seinem begehrlichen Blick auf die Kindfrau Lolita oder aber die mediale Berichterstattung über Pädophilen-Ringe in den Sinn – oder einfach die Warnung an Kinder vor dem „fremden Mann“? Sara Mesa spielt mit diesen Erwartungshaltungen des Lesers. Ihre zwei Protagonisten aber begegnen sich im Gegensatz dazu ohne Scheren im Kopf.
Die eine ist eine jugendliche Schulschwänzerin, die, statt morgens zum Unterricht zu gehen, die Tage an einem etwas abgeschirmten Plätzchen hinter Hecken im Park verbringt. Der andere ein Mann im formellen Sommeranzug, der eines Tages vor ihr steht, sich mit ihr zu unterhalten beginnt und Tag für Tag wiederkehrt. Er nennt sie „Quasi“, weil sie sagt, sie sei „quasi 14“. Sie nennt ihn den „Alten“, weil aus der Perspektive des Teenagers jeder an einem gewissen Punkt in jenen verschwommenen Lebensabschnitt eintritt, in dem es keinen Unterschied mehr macht, ob man 43 oder 67 ist.

Das ungleiche Paar nähert sich an. Der Leser erlebt es aus Quasis Perspektive mit, beschrieben in einer schlichten, sanft dahinfließenden Sprache, die die Offenheit, Klarheit und Unverstelltheit eines jungen Geistes widerspiegelt – den man freilich auch naiv nennen könnte.
Der Alte erzählt von seinen beiden Lieblingsthemen, der Vogelkunde und der Soul-Sängerin Nina Simone. Auf diese beiden Sachgebiete richtet er seine ganze Hingabe und Konzentration und schafft es, die anfangs desinteressierte Quasi allmählich dafür zu erwärmen. So sicher, wie er sich auf diesem Terrain fühlt, so verschlossen und undurchdringlich ist er, was seine Lebensumstände angeht.
Auf den zweiten Blick fällt auf, dass sein Anzug zerschlissen wirkt und dass er die Lautstärke seiner Stimme oft nicht modulieren kann. Quasi nimmt es hin, wie es ist, und insistiert auch nicht bei der sich aufdrängenden Frage, wovon er wohl seinen Lebensunterhalt bestreiten mag. Im Gegenzug maßt er sich kein Urteil über die Tatsache an, dass sie die Schule schwänzt, und kann ihre Empfindungen angesichts des Mobbings und Gruppendrucks unter Gleichaltrigen spontan nachempfinden.
Obwohl sich in der Romanhandlung kaum etwas an äußerer Handlung tut, versteht es Sara Mesa doch auf erstaunliche Weise, mit einem feinen Spiel von Unausgesprochenem und subtilen Hinweisen Spannung aufzubauen. Stück für Stück offenbart sich dem Leser, was es mit dem Alten auf sich hat, was ihn zu dem Außenseiter macht, als der auch die pubertierende Quasi sich fühlt. Unterdessen zieht sich die Schlinge um die von der Entdeckung bedrohte Schulschwänzerin immer enger. Und die Beziehung zwischen Quasi und dem Alten bewegt sich bei all dem immer auf Messers Schneide zum Verbotenen, Geächteten – wobei die Bedrohung der Unschuld dieser Freundschaft und die Verteilung der Täter- und Opferrollen am Ende anders aussehen, als man es erwarten könnte.
Sara Mesa gelingt dabei trotz der äußeren Schlichtheit ein sehr facettenreiches, ambivalentes Bild. Sie spielt mit den Perspektiven. Erst nach und nach wird dem Leser klar, dass die Gesellschaft den Alten nicht so sieht, wie Quasi das tut. Auf diese Weise konfrontiert uns die Autorin mit der Frage, was wir eigentlich als „normal“ ansehen und in welche Schubladen wir Menschen stecken.
Sara Mesa erzählt mit großer menschlicher Wärme. Dass der Text dabei ins Sentimentale kippt – und manchmal ist es knapp -, verhindert ihre zurückgenommene Erzählweise. Sie beherrscht die Kunst der richtigen Dosierung. Die beiden Protagonisten wirken in ihrer Namenlosigkeit inmitten eines ebenso unspezifischen Settings – ein Park in einer Stadt – einerseits fast allegorisch-allgemeingültig, andererseits gar nicht abstrakt, sondern individuell genug, um zu berühren.
Die Sparsamkeit zahlt sich auch bei der Verwendung von Metaphern aus. Der Alte erzählt etwa von einem Vogel ohne Füße, der, weil er sich nirgends setzen kann, gezwungen ist, sein Leben fliegend in der Luft zu verbringen, vor dem menschlichen Auge in seiner himmelblau-transparenten Farbe perfekt getarnt. Ich entdecke dahinter die Sehnsucht des Außenseiters, sein Leben in absoluter Freiheit vom argwöhnischen Blick der Gesellschaft zu verbringen. Sara Mesa schreibt aber unaufdringlich genug, um auch jede andere Interpretation offen zu lassen. Mir jedenfalls hat sich dieses Bild eingeprägt, auch weil es so allein im Roman steht. Jeder weitere solche Fantasievogel wäre zu viel und Kitsch. So aber ist es schön.
In Quasi geht es auch um den schwierigen Weg, um zu sich selbst und zur eigenen Sexualität zu finden. Definiert man sich darüber, wie die anderen einen sehen und was sie von einem erwarten? Was will man eigentlich selbst? Wie weit kann man sich von der Außenwelt und ihren Konventionen lösen? Pubertierende wie Quasi beschreiten diesen Weg wie auf rohen Eiern. Beim Alten ist es aufgrund besonderer Umstände auch mit 54 noch so. Und bei uns allen irgendwie ein Leben lang. Die Lektüre von Cara de pan hilft, sich dabei ein bisschen weniger einsam zu fühlen.
- Sara Mesa, Quasi, Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Wagenbach, 144 Seiten, 18 Euro. (Spanische Originalausgabe: Cara de pan, Editorial Anagrama, 144 Seiten.)