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„Schöne Neue Welt“: Wenn ein Buchtitel auf lange Sicht redensartlich Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat, will das schon etwas bedeuten. Es muss also was dran sein an Aldous Huxleys berühmtem Roman der Zukunft, wie er im Untertitel heißt. Die literarische Qualität allein kann es eigentlich nicht sein, die den Roman aus dem Jahr 1932 bis heute hat überdauern lassen. Und politisch? Taugt da die Schöne Neue Welt als Analyseinstrument für das Jahr 2020? Darauf muss ich nach meinem subjektiven Eindruck mit einem unentschlossenen „teils, teils“ antworten.

Huxleys Roman wird neben 1984 von George Orwell und Fahrenheit 451 von Ray Bradbury zum Trio der großen anglophonen dystopischen Romane der ersten Hälfte des 20. Jahrhunders gezählt, der düsteren Zukunftsvisionen also, die in Wirklichkeit einen kritischen Blick auf Entwicklungen ihrer Gegenwart richten und darauf, wohin diese führen können. Diese Romane einige Jahrzehnte nach ihrem Entstehen zu lesen, hat freilich einen besonderen Reiz: Welche Prognose hat sich möglicherweise (tendenziell) erfüllt, als wie prophetisch lässt sich der Autor im Nachhinein bewerten? Wo irrte er?

Was Huxley vor rund 90 Jahren offenbar umtrieb, das war die Sorge vor einer totalitären, entindividualisierten Gesellschaft – durchaus begründet angesichts der in den 1930er-Jahren folgenden politischen Entwicklungen in der Welt. Er warnt – in durchwegs satirischem Duktus – vor einer Diktatur, deren Durchsetzung nicht mehr mittels Gewalt erfolgt, sondern in der sich die Unterdrückten ausgesprochen wohlfühlen und dabei nicht merken, wie sie manipuliert, infantilisiert und entmündigt werden.

Weil dabei ihre primitiven Bedürfnisse erfüllt sind – was in Huxleys dystopischem Staat „Glück“ genannt wird -, begehrt keiner auf. Jeder Anflug von Zweifel und Missmut wird durch Verabreichung der Droge „Soma“ in falscher Glückseligkeit erstickt. Noch dazu werden die Menschen, die in regelrechten Fabriken ausschließlich im Reagenzglas produziert werden, von vornherein genetisch so „designt“, dass sie sich naht- und klaglos in ein strenges Kastensystem einfügen. Zusätzlich werden sie im Schlaf mit ideologischen Leitsätzen indoktriniert und mittels einer Überschwemmung mit Sinneseindrücken im „Fühlkino“ ruhig gehalten.

So weit, so berechtigt sind Huxleys Mahnungen. Denn das in der Schönen Neuen Welt abgeschaffte selbstständige Denken und Hinterfragen tun selbstverständlich dringend not. Und das Recht auf Imperfektion ist untrennbar mit der Würde des Menschen verknüpft. Nahm Huxley seinerzeit wahrscheinlich konkret die Bestrebungen zur Zwangsbeglückung sowohl im Kommunismus als auch in einem grenzenlosen Kapitalismus ins Visier, mangelt es in unserer Gegenwart ganz sicher auch nicht an totalitären Systemen, in denen sich Elemente aus dem Roman auf beängstigende Weise wiedererkennen lassen. Am unmittelbarsten denke ich als heutiger Leser dabei an China, in dem eine durch materielle Errungenschaften zufrieden gestellte Bevölkerung in ein System der umfassenden Kontrolle und Unfreiheit eingepasst werden soll.

Aber auch auf unsere westlichen Gesellschaften sind einige von Huxleys kritischen Beobachtungen erstaunlich frisch und aktuell übertragbar, etwa wenn er den Menschen in seiner Schönen Neuen Welt auf seine Funktion als Konsument reduziert, der doch bitteschön nichts Altes reparieren soll, sondern zu stetem Wegwerfen und Neukaufen animiert wird. Oder wenn er beschreibt, wie das gesellschaftliche Leitbild suggeriert, die Natur lasse sich ausschließlich nach entsprechender aktiver Gestaltung und mit Hilfe teurer Sportgeräte genießen. Dieses Prinzip findet man beim Blick auf gigantisch ausgebaute Skigebiete oder auf die vielen Menschen auf ihren Stand-up-Paddelbrettern unmittelbar bestätigt.

Mit der Warnung vor menschlichen Allmachtsfantasien in Reproduktionstechnik und Genmanipulation trifft Huxley ebenfalls einen wunden Punkt der Moderne. Das Spannungsfeld zwischen dem technisch/medizinisch Möglichen und dem ethisch Vertretbaren ist im 21. Jahrhundert virulenter denn je – auch wenn sich die dunkle Prophezeiung des geklonten Menschen bis heute (zum Glück) nicht erfüllt hat.

In anderer Hinsicht wirkte Schöne Neue Welt dann allerdings wieder etwas altbacken auf mich. Zu der von Huxley skizzierten und auch beklagten Weltordnung der Zukunft gehören etwa eine Übersexualisierung und Zwangspromiskuität, damit einhergehend der Wegfall der Familie und der Religion. Das mag einen wahren Kern enthalten – doch sexuelle Befreiung, Offenheit gegenüber Lebensformen jenseits der traditionellen Ehe oder eine zunehmende Loslösung von der Kirche sehe ich gerade nicht als zentrale Nachteile der Moderne, im Gegenteil: Der diesbezüglich vielfach zu beobachtende backlash macht mir Sorgen.

Heutige wichtige Bewegungen wie Me too oder LGBTQ dürften bei Huxley jedenfalls kaum Anknüpfungspunkte finden. Und auch ich habe von dem, was mich aktuell beim Blick auf den Zustand der Welt ängstigt – soziale Ungleichheit, Rassismus, Zerstörung des Planeten, autoritäre Regime, Spaltung der Gesellschaft, die sich auf keine „Wahrheit“ mehr einigen kann – in Huxleys Roman wenig widergespiegelt gesehen.

Stattdessen hatte ich beim Lesen wiederholt das mulmige Gefühl, dass sich auch die aus meiner Warte „Falschen“ auf Huxley beziehen könnten – diejenigen nämlich, die hierzulande an jeder Ecke „Diktatur“ und „Bevormundung“ wittern, wo keine ist, und die unter „selbstständigem Denken“ verstehen, unsere freiheitliche Gesellschaft zu einem dystopischen Unterdrückungsstaat umzuinterpretieren, nur weil sie beim Einkaufen eine Maske tragen sollen. Oder die sich pauschal von „den Medien“, einem geheimnisvollen Zirkel von Mächtigen „da oben“ und aktuell auch von „der Wissenschaft“ manipuliert fühlen und gar im Wortsinn eine Verschwörung zur Herstellung einer neuen Weltordnung wittern.

Für so etwas will ich natürlich überhaupt nicht Huxley in Haftung nehmen. Obwohl… seine Darstellung der Masse der Bevölkerung als willfährige „Schlafschafe“ hat schon etwas Überhebliches an sich. Niemand bricht in Huxleys totalitärem Staat wirklich aus, nur zwei Figuren beschleichen zeitweise Zweifel, doch als Rebellen wirken Bernard Marx und Helmholtz Watson allzu halbherzig.

So kommt das dramaturgisch unverzichtbare Element des Aufbegehrens gegen die etablierte Ordnung in diesem Roman (leider) nicht aus der Mitte der Gesellschaft, sondern von einem absoluten Außenseiter: John Savage ist in einem Reservat offenbar nicht gleichschaltbarer „Wilder“ aufgewachsen. Doch diese Gegenwelt primitiver Riten, prekärer Hygiene und irrationaler Religiosität ist beileibe kein positives Gegenbild zur hyperkontrollierten Schönen Neuen Welt. Der sich unablässig selbst geißelnde, Shakespeare zitierende und sexuelle Enthaltsamkeit übende John ist seinerseits zu grotesk gezeichnet, um zur Identifikation zu taugen.

So bleiben letztlich alle Figuren karikierte Stereotypen. Es fehlen die Schattierungen, die das Menschliche ausmachen könnten, auch auf Entwicklungen in den Charakteren warten die Leser*innen vergeblich. Von daher baut sich auch in der Handlung keine echte Spannung auf. Als Roman wirkt Schöne Neue Welt platt und bleibt in Thesenhaftigkeit und auch Klischees stecken.

Vielleicht ist der dystopische Roman auch einfach nicht mein Genre, weil beim Ausmalen einer absurd erscheinenden Zukunft Aspekte wie Psychologie und Dramaturgie allzu oft auf der Strecke bleiben? Weil diese Art von Romanen zum erhobenen Zeigefinger und zur Vermittlung einer Botschaft via Holzhammer-Methode neigt? Weil ich in Romanen Logik und Nachvollziehbarkeit suche statt mich von einer fantasievollen Vision faszinieren zu lassen? Jedenfalls glaube ich, dass es für mich weder persönlich noch historisch der richtige Moment war, um mich ganz auf Huxleys Roman einzulassen.

  • Aldous Huxley, Schöne Neue Welt. Ein Roman der Zukunft, Aus dem Englischen von Uda Strätling, Mit einem Nachwort von Tobias Döring, Fischer Klassik, 368 Seiten, 12 Euro.

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