Eine ehemalige Kollegin hat kürzlich auf Facebook berichtet, dass sie in Kurzarbeit war und die gewonnene freie Zeit dazu nutzte, Philosophie-Vorlesungen zu hören. Sie habe, so schrieb sie, dadurch das Gefühl, wieder den Himmel zu sehen, während sie in ihrem beruflichen Alltag als Journalistin doch meistens viel zu nah an der Erde klebe. Das Lesen eines einzelnen Buchs lässt sich natürlich nicht mit einem Philosophie-Studium vergleichen. Und doch muss ich gerade immer wieder an die Worte der sehr geschätzten Berufsgenossin denken. Der Roman Ich zähmte die Wölfin von Marguerite Yourcenar hat auch mir zu diesem wunderbaren Gefühl verholfen, endlich wieder einmal mit den Gedanken vom Boden abzuheben.
Yourcenars Erinnerungen des Kaisers Hadrian – so der Untertitel – führen tatsächlich weit weg vom schnöden Hier und Jetzt, nämlich ins alte Rom des ersten und zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Abgefasst ist der Roman in der Form eines langen Briefs, den der schwer erkrankte Kaiser Hadrian kurz vor seinem Tod an Marc Aurel schreibt. Er hat ihn kurz zuvor durch seine Adoptionspolitik zu seinen Nach-Nachfolger designiert.
Es ist eine Art Vermächtnis und eine Bilanz in allen Dingen des Lebens. Hadrian legt Rechenschaft ab über seine Regierungszeit, die sich zunächst einmal durch die Abkehr vom Expansionsdrang seines Vorgängers Trajan auszeichnet. Mit strategischen Zugeständnissen und geschickten Verhandlungen lässt Hadrian das Römische Reich in einem stabilen Frieden erblühen. Später allerdings wird er einen jüdischen Aufstand in Judäa mit aller militärischen Härte niederschlagen und beim Blick auf die Trümmerhaufen des ehemaligen Jerusalem ernüchtert festhalten:
Wenn sechzehn Jahre der Regierung eines leidenschaftlich friedliebenden Herrschers zu solchen Ergebnissen führten, dann mußte es um die Friedensaussichten der Welt für die Zukunft mäßig bestellt sein.
Seite 229
Das ist auch 2000 Jahre später leider kaum zu bestreiten.
Hadrian lässt den Adressaten seines Briefes an allen Aspekten des Herrschens und am geistigen Fundament seiner Entscheidungen teilhaben: an Gesetzgebung und Verwaltung eines Weltreichs, an der Gründung von Städten, dem Bau von Monumenten, Straßen und Tempeln, politischen Intrigen und Machtspielen. Oft wirkt er dabei ausgesprochen aufgeklärt und modern, etwa wenn er die Rechte der Sklaven und – in gewissem Rahmen – der Frauen stärken will. Hadrians philosophische Erwägungen passen bisweilen nahtlos in unsere Zeit. So wägt er die Vorzüge und Nachteile vegetarischer Ernährung ab. Etliche seiner schönen, klaren Gedanken sind von zeitloser Gültigkeit.
Das Buch führt uns dabei vor Augen, dass Rom viele Fundamente für unsere Zivilisation, für bis heute gültige Prinzipien der Staatlichkeit und des Rechts gelegt hat. Faszinierend auch, dass davon viele bis heute zu besichtigende Bauwerke ein äußerliches Zeugnis ablegen – sei es der britische Hadrianswall, der die Festigung von Grenzen illustriert, die der Kaiser nun nicht weiter ausdehnen wollte; sei es die Engelsburg in Rom, ursprünglich errichtet als Grabstätte für Hadrian; oder das von Hadrian erbaute Pantheon, dessen architektonischer Geist in Ich zähmte die Wölfin kurz, aber auf beeindruckende Art heraufbeschworen wird: Diesen Tempel von Venus und Roma wird man nach Lektüre des Romans beim nächsten Besuch in Rom mit anderen Augen sehen.
Bei allen vorhandenen Bezügen zur Gegenwart ist eine große Stärke, dass Maguerite Yourcenar ihren Hadrian ganz als Mensch seiner Zeit darstellt. Ja, denkt man als Leser, genau so könnte ein Kaiser vor 2000 Jahren gedacht haben. Das wirkt höchst authentisch und glaubwürdig und ist von der Autorin, die über 30 Jahre hinweg immer wieder an dem Roman arbeitete, zweifelsohne fundiert recherchiert. Ihr umfassendes Wissen ist in jedem Satz zu spüren, ohne dass das Buch mit Fakten überfrachtet wäre.
Dazu kommt die wunderschöne Sprache mit ebenso eleganten wie komplexen Satzkonstruktionen, wie ich sie gefühlt zuletzt im Lateinunterricht (lang ist’s her!) gelesen und entschlüsselt habe. Der gewählte, nuancierte Wortschatz und die kunstvollen grammatikalischen Gefüge, die große Gedankengebilde einzufangen imstande sind: Das erfordert für so manchen Abschnitt zwar einen zweiten Leseanlauf, doch der wird dann mit höchstem Genuss belohnt.
Verabschieden muss man sich übrigens auch von manch anderer moderner Leseerwartung und -gewohnheit. Es gibt in diesem Buch keine Dialoge und kaum szenische Beschreibungen. Hier prescht die Handlung nicht voran, sondern es stehen ausführliche, tiefsinnige Reflexionen im Vordergrunkt. Der Roman ist 1951 erstmals erschienen. Das ist aber völlig egal. Er ist jedem literarischen Trend der Neuzeit enthoben, steht ganz für sich.
Yourcenar zeigt uns Hadrian als absolut reflektierten Mann der Vernunft und der Werte – aber er folgt wie gesagt nicht den Normen unserer Zeit. So bietet der Roman auch spannende Einblicke in politische wie alltägliche Gepflogenheiten der Antike. Der Kaiser beteiligt sich an okkulten Ritualen und sucht Rat bei Wahrsagern aller Art. Rivalen um die Macht oder mögliche Umstürzler müssen durch Mord aus dem Weg geräumt werden – Hadrian tut es nicht eben leichten Herzens, doch letztlich ohne allzu große Skrupel. Und auch das Missgeschick, einem Sekretär mit dem Schreibrohr mehr oder weniger versehentlich ein Auge ausgestochen zu haben, bleibt für den Kaiser nicht viel mehr als eine bedauerliche Episode. Historisch sehr interessant ist außerdem – unter anderem – die Art der Nachfolgeregelung zu Zeiten des Adoptivkaisertums, wobei die Umstände von Hadrians Adoption durch Trajan wunderbar doppeldeutig bleiben.
Einen ganz zentralen Aspekt von Ich zähmte die Wölfin habe ich aber noch gar nicht erwähnt. Denn für viele Leser handelt es sich sicher in erster Linie um eine große, tragische Liebesgeschichte, nämlich die zwischen Hadrian und dem jungen Bythinier Antinoos. Mit 20 Jahren ertränkt sich der Geliebte des Kaisers im Nil. Die vielen melancholischen und tief reichenden Gedanken Hadrians um Liebe, emotionale Abhängigkeit und Tod gehören zu den packendsten und berührendsten Stellen des Romans.
Man könnte sagen, die Lektüre von Ich zähmte die Wölfin erfordere Disziplin, Konzentration und innere Ruhe. Ich möchte sagen: Das Buch schenkt dem Leser eben diese Konzentration und innere Ruhe. Yourcenar hebt die Leser*innen vom Grund des Alltäglichen hinauf in eine Sphäre der Ästhetik, Philosophie und Kunst und erlaubt ihnen eine weite Perspektive aufs große Ganze. Ein Meisterwerk.
- Yourcenar, Marguerite: Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian, Aus dem Französischen von Fritz Jaffé, Mit einem Anhang „Notizen zur Entstehung des Buches“, dtv, 336 Seiten, 10,90 Euro.