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Die ewige Mutter: Sie ist eine Konstante im Werk des irischen Schriftstellers Colm Tóibín – man denke nur an seinen Erzählungsband Mütter und Söhne, die große, stille Hommage an die verwitwete vierfache Mutter, Titelfigur des Romans Nora Webster – oder gar an die Essaysammlung mit dem Titel New Ways to Kill Your Mother. Insofern fügt es sich nahtlos in sein Schaffen ein, dass der Ire 2012 thematisch auch bei der Mutterikone der christlichen Kultur schlechthin Station machte, nämlich bei der Mutter Gottes. Wie immer aber ist Tóibín in Marias Testament weit entfernt von jeder Verklärung der Mütterlichkeit. Seine Maria ist nicht die Heilige, wie wir sie von Statuen und Gemälden her kennen. Sie ist eine herbe, bittere, ganz und gar menschliche Frau, die um ihren Sohn trauert – und seiner grausamen Hinrichtung absolut nichts Transzendentes abgewinnen kann.

Marias Testament erzählt die christliche Passionsgeschichte – eng entlang des Johannesevangeliums, jedoch aus neuer Perspektive. Ich-Ezählerin ist Maria, die nach dem Kreuzigungstod Jesu ihre letzten, im wahrsten Sinne trostlosen Lebensjahre versteckt in Ephesus fristet. Versorgt wird sie von zwei Jüngern – nach Tóibíns eigenen Worten ließen sich darin eventuell die Apostel Johannes und Paulus erkennen, explizit festgelegt ist das aber nicht. Maria sind die Besuche der beiden eher lästig, denn sie erwarten von ihr offenbar, Zeugnis für etwas abzulegen, hinter dem sie selbst nicht stehen kann.

Nein, Maria betrachtet das Leben ihres Sohnes nicht als Heilsgeschichte und Erlösung. Aus ihrer Sicht hat er eine Gruppe Nichtsnutze um sich geschart, und gemeinsam haben sie sich in eine Idee verstiegen, die auf geradem Weg ins Verderben geführt hat, nämlich zur Kreuzigung. Der Hinrichtung beizuwohnen, hat Maria traumatisiert. Den Jüngern, die die Lebens- und Leidensgeschichte in religiöser Überhöhung bezeugt bekommen wollen, um sie weiterzutragen, hält sie entgegen: „Wenn Ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.“

Juan M RomeroMichelangelo’s Pietà, St Peter’s Basilica (1498–99)CC BY-SA 4.0

Marias Testament ist keine Gegenerzählung zum neuen Testament. Ich habe darin auch nicht in erster Linie ein Inzweifelziehen der Bibel gelesen. Tóibín hat sich vielmehr entschlossen, aus der Ikone Maria in voller Konsequenz wieder einen Menschen zu machen, eine Frau, die fühlt, was eine Mutter fühlt. Die ihren Sohn lieber als soliden Handwerker in sicheren Verhältnissen gesehen hätte denn als verfolgten Messias.

Während der Hochzeit von Kana versucht sie, zu ihm durchzudringen, ihn zu bewegen, sich in Sicherheit zu bringen und von seinem öffentlichen Wirken abzulassen. Doch er weist sie zurück: „Weib, was geht’s dich an, was ich tue?“ Tóibín erzählt auch die universelle Geschichte einer Mutter, die ihr Kind loslassen muss, ihren Einfluss und das intime Band zu ihm verliert. Vor Maria steht ein Fremder, aus ihrem Blickwinkel ein Fanatisierter. Den Jungen, den sie großzog, erkennt sie in ihm nicht wieder.

Tóibíns Roman zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er in Dialog mit Malerei, Musik und Dichtung aller Epochen tritt. Die biblischen Motive, die feste Bestandteile unseres kulturellen Gedächtnisses sind, führt er ziemlich nüchtern auf eine kühle, reduzierte, hyperrealistische Wiedergabe zurück und fügt ihnen damit eine Dimension hinzu.

Der Autor erzählt davon, wie Jesus den Gelähmten die Krücken von sich werfen lässt, wie er den toten Lazarus wieder zum Leben erweckt, wie er Wasser zu Wein verwandelt. Dabei bleibt er dem Johannesevangelium treu, doch lässt eine Maria sprechen, die nicht an Wunder glaubt. Sie weiß von den angeblichen Taten ihres Sohnes aus Erzählungen – kennt aber niemanden, der persönlich dabei war, als Lazarus dem Grab entstieg. Und sie kann auch nicht sicher sagen, ob die Krüge, die bei der Hochzeit von Kana herbeigeschleppt werden, nicht von Beginn an Wein enthielten. Tóibín bietet somit eine rationale Lesart der biblischen Geschichten an – es könnte sich nur um sich verselbstständigende Gerüchte und (absichtsvolle) Verklärungen gehandelt haben -, ohne dem Neuen Testament seinen Wortsinn eindeutig abzusprechen.

Die Auferweckung des Lazarus von Juan de Flandes, um 1500–1510

Auf Distanz geht er aus meiner Sicht nicht zur Religion, sondern zur Kirche, zu den unsympathisch gezeichneten Aposteln, die Marias Sicht der Dinge nicht gelten lassen, ihrer eigenen Lebensgeschichte eine ungewollte Transzendenz aufzwingen wollen. Das geht so weit, dass sie Maria belehren wollen, dass nicht Joseph, sondern Gott der Vater ihres Kindes sei. Männer erklären einer Frau, was mit ihrem eigenen Körper passiert ist. Und daraus entsteht eine Kirche mit zutiefst patriarchalen Strukturen.

Wie anders hätte das Christentum wohl ausgesehen, hätte es sich nicht auf die von Maria so titulierten verdrucksten „Nichtsnutze“ gegründet, die „bloße Kinder waren“, die „einer Frau nicht in die Augen sehen konnten“, und deren Wirken nach Marias Anschauung doch viel mit Selbstdarstellung und Selbstüberschätzung zu tun tun hat? Wenn der Religionsgründer der Sohn gewesen wäre, den sie kannte, der eine Frau so ansehen konnte, „dass sie sich ihm gleichwertig fühlte“, und nicht der Jesus, den sie auf der Hochzeit von Kana trifft: „Jetzt hatte er nichts Zartes an sich, er war zur Schau gestellte Männlichkeit, selbstsicher und strahlend.“ Wenn stattdessen eine weibliche, weniger apodiktische, mehr Offenheit zulassende Stimme wie die von Maria Gehör gefunden hätte?

Jacopo Tintoretto: Die Kreuzigung

Schließlich steckt in Marias Testament auch das Bild einer sich auflösenden gesellschaftlichen Ordnung – ob nun lesbar als Aufbruch oder als Polarisierung und Fanatisierung. „Ich hatte bis dahin noch niemanden über die Zukunft sprechen hören, außer sie sprachen vom nächsten Tag oder von einem Fest. Aber nicht in Zusammenhang mit einer Zeit, in der alles anders und alles besser sein würde“, sagt Maria zu Beginn des Romans.

Ihr ist dieser Wind der Veränderung, der ihren Sohn mit fortträgt, unheimlich. Und sie erlebt schließlich den Exzess mit, in den die Hoffnungen und die daraus entstehenden Konflikte münden: Die in schonungslosem Realismus in aller Schärfe – sozusagen in HD – erzählte Kreuzigungsszene ist sicherlich der beeindruckende und schmerzhafte Höhepunkt des Romans. Jesus stirbt inmitten einer Menschenmasse, die sich in einen wahren kollektiven Blutrausch steigert.

Von hier lässt sich ohne weiteres die Brücke zu vielen historischen Konstellationen und zur Gegenwart schlagen – unterstützt dadurch, dass Tóibín uns die biblischen Figuren als eigentlich recht modern erscheinende und sprechende Figuren zeigt. Man mag – um mit einem Beispiel nah an Colm Tóibíns Lebenswelt zu bleiben – in Jesus und Maria auch einen IRA-Terroristen und dessen Mutter erkennen.

Es ist also sehr viel enthalten in den lediglich 128 Seiten des Romans. Diese Dichte macht es dem Leser freilich nicht ganz einfach. Es bleibt kaum Zeit zum Atemholen, der Text wird von einer durchgehenden Dringlichkeit getrieben. So irdisch und mit der für Tóibín typischen feinen Psychologie uns Maria auch gezeigt wird, so wenig Identifikation oder Sympathie zu den Figuren lässt der Roman zu. Er ist ein sicher beeindruckendes, aber auch düsteres Leseerlebnis.

  • Colm Tóibin, Marias Testament, Aus dem Englichen von Giovanni und Ditte Bandini, dtv Verlagsgesellschaft, 128 Seiten, 9,90 Euro.

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