Es dürfte nur ganz wenige Autor*innen, zumal in Deutschland, geben, die einen solch reichhaltigen Überblick über Kultur und Geschichte Lateinamerikas vorlegen können. Mit Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren hat Michi Strausfeld ein Mammutprojekt in Angriff genommen und erfolgreich bewältigt: Sie zeichnet einen Umriss der Geschichte Lateinamerikas von der Ankunft Kolumbus‘ bis heute und setzt die Historie in Verbindung mit der Literatur des Kontinents. Das muss ihr erst mal jemand nachmachen!
Ihr Name mag nur speziell Interessierten ein Begriff sein, doch tatsächlich nimmt Michi Strausfeld eine ziemlich einzigartige Stellung in der Kulturlandschaft ein. Wie kaum jemand sonst kann sie das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, den Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten die lateinamerikanische Literatur näher gebracht zu haben, unter anderem als langjährige Mitarbeiterin des Suhrkamp-Verlags, aber auch als Herausgeberin von Anthologien, Organisatorin von Literatur-Festivals und Lesereisen sowie durch vielerlei Aktivitäten mehr.
Mit Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren legt sie sie nun eine Art Zusammenfassung eines Teils ihres umfangreichen Erfahrungs- und Leseschatzes vor. Sie stellt den Lesern eine enorme Bandbreite lateinamerikanischer Autoren und ihre Werke vor. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wie Schriftsteller die Geschichte ihres Kontinents verarbeiten und greifbar machen.
Dialog auf Augenhöhe mit Lateinamerika
Dieser Ansatz geht von zwei Grundgedanken aus: zum einem der Annahme, dass Literatur die Kraft hat, über die reine Wiedergabe von Daten und Fakten hinaus eine „Wirklichkeit“ abzubilden, oft ganzheitlicher, als es jedes Sachbuch könnte – und dass auch erzählende Werke der Fiktion somit per se „politisch“ sind.
Zum anderen ist es Strausfeld wichtig, dem deutschen Leser eine Innenperspektive der Lateinamerikaner anzubieten. Nachrichten von diesem Kontinent kommen hierzulande, wenn überhaupt, als Randnotiz vor. Lateinamerika ist für die meisten Deutschen nicht nur geografisch sehr weit weg. Die Kenntnisse über Geschichte und aktuelle politische Entwicklungen sind gering. Dieser eurozentrischen Ignoranz will Strausfeld einen „Dialog auf Augenhöhe“ entgegensetzen.

Und wie wichtig der wäre, macht sie schnell klar. Das beginnt damit, dass die Kenntnis von dem, was ab 1492 beim Aufeinandertreffen der spanischen Entdecker und Eroberer mit den Hochkulturen etwa der Maya und Azteken passierte, essentiell für das Verständnis unserer Welt ist – wohin Gier, Maßlosigkeit, Rassismus und schließlich die Verheerungen des Kolonialismus uns bis heute geführt haben.
Von der Conquista bis zum Zusammenbruch Venezuelas
Von den Träumen und pervertierten Idealen der mexikanischen und der kubanischen Revolution über den Kreislauf zwischen gescheiterten Demokratien, Militärregimen und teils bizarr grausamen Diktaturen bis hin zur Gewaltherrschaft von Drogenkartellen in Kolumbien und Mexiko, zu den fatalen Folgen des US-Imperialismus in Mittelamerika und zum Zusammenbruch in Venezuela: Die Geschichte und Aktualität Lateinamerikas – auch als Kontinent der Träume, der Utopien und der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten – hätte der Welt so viel zu sagen, wenn wir nur genauer hinschauen und hinhören würden.
Und bei wem sich all das nachlesen lässt, dazu hat Michi Strausfeld unzählige Vorschläge. Das beginnt bei den Chroniken aus der Conquista-Zeit eines Bernal Díaz del Castillo oder eines Bartolomé de las Casas und endet vorläufig bei jungen Autoren von heute, die in der Vermischung von journalistischer Reportage und fiktionalen Elementen zu innovativen Formen der Literatur gefunden haben.
Und dazwischen ragen natürlich die Großmeister heraus, die der lateinamerikanischen Literatur ab den 1960er-Jahren zu einem weltweiten Boom verhalfen und seither – ob zu Recht oder Unrecht – unter diesem Schlagwort zusammengefasst werden. Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes und einige mehr haben mit ihren Meisterwerken den Kontinent mit einem Schlag ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Literaturwelt gerückt.

Die nachfolgende Autorengeneration allerdings hat es schwer, aus ihrem Schatten zu treten und sich von der inzwischen zum Klischee gewordenen Genrebezeichnung des Magischen Realismus zu befreien. Die lateinamerikanische Literatur von heute ist für den deutschen Leser wieder weitgehend unbekanntes Terrain. Zu Unrecht, wie Michi Strausfeld anhand eines überbordenden Arsenals an Beispielen belegt.
Michi Strausfeld erzählt von Freundschaften mit Großmeistern der Literatur
Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren ist so umfassend, dass man es fast als eine Art Vermächtnis der Autorin begreifen könnte. Ihr Alter verschweigt der Klappentext zwar diskret, aber es ist klar, dass ihr intensives Leben mit der Literatur Lateinamerikas Jahrzehnte umfasst. Eingestreut in ihr Buch finden sich auch einige Passagen, die man als autobiografisch bezeichnen könnte. Michi Strausfeld erzählt von ihren Begegnungen und oft tiefen Freundschaften mit einigen der wichtigsten Autoren spanischer und portugiesischer Sprache. Sie reiste zusammen mit Vargas Llosa durch den Urwald, nennt ein Feuerzeug als persönliches Erinnerungsstück an Juan Rulfo ihr Eigen, flanierte mit Julio Cortázar durch Paris…
Beim Lesen von diesen engen Kontakten mit einigen der Fixsterne meines literarischen Himmels konnte ich nur vor Neid erblassen. Was für ein Leben! Michi Strausfeld legt in diesen kurzen Kapiteln aber stets den Fokus auf die Literaten und hält die eigene Person im Hintergrund. Oft schwenkt sie dann sogar wieder auf eine Zusammenfassung der wichtigsten Werke desjenigen um. Die wohl angepeilten persönlichen Miniatur-Portraits der Schriftsteller gelingen auf diese Weise nur bedingt. Offenbar ist Michi Strausfeld viel zu diskret, um Privates und Persönliches dieser Berühmtheiten ans Licht zu zerren. Und sie ist zu uneitel, um zu glauben, dass sich jemand für ihren eigenen Lebensweg und ihre Befindlichkeiten interessieren könnte.
Mich hätte etwas mehr Klatsch und Tratsch aber brennend interessiert! Andererseits konnte ich mich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass Michi Strausfeld die literarischen Möglichkeiten fehlen, um auf wenigen Seiten der Persönlichkeit eines Menschen wirklich nahe zu kommen. Das ist schade, aber es ist dieser großartigen Literaturvermittlerin auch nicht anzukreiden, dass sie sich nicht anmaßt, selbst eine Literatin zu sein.
Wäre weniger mehr gewesen?
Das merkt man übrigens im gesamten Buch. Es ist zwar solide geschrieben und durchaus gut lesbar. Höhere stilistische Ambitionen aber hatte die Autorin offenbar nicht. Manches kommt ausgesprochen hölzern daher, und bisweilen verliert sie sich gar in grammatikalisch höchst fragwürdigen Satzkonstruktionen. Auch die Schwierigkeit, der enormen Stofffülle Herrin zu werden, ist nicht zu übersehen. An einzelnen Stellen leidet darunter der logische Aufbau, und es kommt zu Redundanzen. Dazu muss man aber auch sagen, dass das Buch wohl kaum dazu gedacht ist, dass man es wie ich von vorne bis hinten am Stück durchliest. Mitunter muss die Autorin natürlich auch wieder diejenigen Leser*innen mitnehmen, die das vorangegangenen Kapitel nicht unmittelbar im Kopf haben.
Wäre weniger vielleicht mehr gewesen? Darüber lässt sich sicher streiten, und manche historische Konstellation und etliche Romane hätten bestimmt eine Analyse mit mehr Tiefgang verdient, als es dieses Überblickswerk leisten kann. Ich habe aber garade die große Bandbreite des Dargestellten als sehr anregend empfunden. Man ist unmittelbar inspiriert, zu vielen der genannten Romane zu greifen und sich von dort aus weiter in einzelnen Themen zu vertiefen.

Überhaupt sind die kleinen Kritikpunkte nicht überzubewerten. Für mich war Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren eine sehr faszinierende und, ja, auch emotionale Lektüre. Denn sie hat mich zurückgeführt in die Zeiten meines Hispanistik-Studiums. Schon damals waren von Michi Strausfeld herausgegebene Anthologien und Aufsatzsammlungen für mich mit ein Schlüssel zur Entdeckung neuer literarischer Horizonte. Ich verschlang Romane wie Das grüne Haus von Mario Vargas Llosa, Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez oder Der Kuss der Spinnenfrau von Manuel Puig, die ich alle bis heute zu meinen Allzeit-Lieblingsbüchern zähle. Mehrmals durfte ich in meinem Leben auch nach Lateinamerika reisen – natürlich höchst selten im Vergleich zu Michi Strausfeld. Daher fand ich in den Gelben Schmetterlingen auch viele Momente des Wiedererkennens, und das Buch löste allerhand nostalgische Gefühle in mir aus.
Ohne solche Bezugspunkte könnte die Lektüre freilich für den ein oder anderen schwierig werden – dann mag man sich in der Aufeinanderfolge so vieler Namen, die einem vielleicht nichts sagen, verirren. Andererseits kann gerade für diese Leser*innen Michi Strausfelds Werk auch eine wundervolle Einladung zu einer Entdeckungsreise sein, ohne die ein Leseleben viel, viel ärmer wäre.
- Michi Strausfeld, Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte, S. Fischer, 576 Seiten, 26 Euro.