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Das war knapp: Gerade einmal drei Tage vor Ende des Jahres – und eben noch pünktlich zum 200. Geburtstag des Autors am 30. Dezember – habe ich einen meiner literarischen Vorsätze für 2019 umgesetzt und einen Roman von Theodor Fontane zu Ende gelesen. Nach Pflichterfüllung, wie ich es vielleicht erwartet hätte, fühlte sich die Lektüre von Der Stechlin aber ganz und gar nicht an, im Gegenteil: Beim Lesen hatte ich zumeist ein Lächeln im Gesicht.

Im Rahmen dieses Blogs eine Rezension zu einem solchen Klassiker zu schreiben, fühlt sich immer ein wenig anmaßend und gleichzeitig überflüssig an. Neues zur Interpretation beitragen kann ich sicher nicht, die Qualität des Werks steht außer Frage, und für eine belastbare (literatur-)geschichtliche Einordnung fehlt mir das nötige Wissen. Doch ich lasse mich mal wieder nicht abhalten und möchte ganz unbedarft die Leseerfahrung eines Rezipienten rund 120 Jahre nach Veröffentlichung des Romans hinzufügen.

Und die war unerwartet positiv. Nichts von wegen gepflegte Langeweile oder Passagen, durch die man sich hätte durchbeißen müssen. Der Stechlin ist ein Roman, der ausgesprochen ungezwungen und entspannt daherkommt.

Der Stechlin ist ein Conversations with friends des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Dass einen die Handlung in atemlose Spannung versetzt, darf man freilich nicht erwarten. Äußerlich passiert tatsächlich sehr, sehr wenig auf den vielen Seiten dieses Romans. Man besucht sich gegenseitig, unternimmt in Gesellschaft einen Spaziergang oder einen Ausflug, kehrt in eine Lokalität ein und feiert – ein „dramatischer Höhepunkt“ – eine Hochzeit.

Theodor Fontanes Geburtsstadt Neuruppin stand 2019 ganz im Zeichen des 200. Geburtstags des Schritstellers. Unter anderem wurden Zitate von ihm in die Bäume gehängt.

Worauf es aber ankommt: Bei all dem reden die beteiligten Personen sehr viel miteinander. Der Stechlin ist sozusagen so etwas wie ein Conversations with friends des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der ganze Roman besteht aus Plaudereien über dies und jenes – Alltägliches ebenso wie Philosophisches, Religiöses und Politisches. Die Gespräche gibt Fontane als wunderbar fließende, leichte Dialoge wieder, sehr oft im Grundton einer sanften Ironie. Fontane zeigt sich dabei als sehr genauer, aber stets wohlwollender Beobachter. Er präsentiert uns den Austausch von Meinungen nie als Schlagabtausch, sondern die Beteiligten spielen sich elegant die Bälle zu.

Dabei kristallisiert sich das Bild einer Gesellschaft heraus, die an der Schwelle steht zwischen dem traditionellen preußischen Wertgefüge des Alten Fritz und dem Übergang in eine neue Zeit, zu der liberalere Sitten, die Sozialdemokratie, mehr Weltoffenheit, aber auch wilhelminisches Säbelrasseln und Nietzsches „Übermenschen“-Denken gehören.

Dubslav von Stechlin symbolisiert ein scheidendes Zeitalter

Im Roman ist die Hauptfigur Dubslav von Stechlin, ein märkischer Adeliger mit Sitz am Stechlinsee, ein Repräsentant des scheidenden Zeitalters. Sein Tod am Ende des Romans symbolisiert den Abschied von einer Ära. In sein bescheidenes Schloss wird sein Sohn Woldemar einziehen, gemeinsam mit seiner frisch angetrauten Ehefrau – für welche der beiden in Berlin wohnhaften Schwestern Melusine und Armgard er sich entscheidet, ist zuvor so ziemlich der einzige zaghafte Spannungsmoment im Roman.

Dubslav und Woldemar stehen sich als Vertreter verschiedener Generationen keineswegs als Antagonisten gegenüber. Denn bei allem Konservatismus ist der alte Stechlin doch auch so mancher modernen Idee gegenüber aufgeschlossen und zeigt vor allem eine Eigenschaft: Toleranz. Im Gegenzug bezeugt sein Sohn, obgleich ganz Kind seiner Zeit, dem Althergebrachten den gebührenden Respekt.

Wer auch immer sich in Der Stechlin miteinander unterhält: Jeder ist aufgeschlossen, auch seinem Gegenüber in gewissen Punkten Recht zu geben und zumindest dessen Perspektive anzuerkennen. Einzige Ausnahme ist wohl Dubslavs Schwester, die verknöcherte Kloster-Vorsteherin Adelheid. Wie Fontane sie voller Ironie, aber auch nicht bösartig karikierend zeichnet, gehört zu dem amüsantesten Passagen des Romans.

Die Botschaften Fontanes aber sind in vielen wunderschön formulierten Zitaten, die sich bestens zum Herausschreiben eignen, verewigt, wie in diesem der Gräfin Melusine:

„Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod. Es kommt darauf an, dass wir gerade das beständig gegenwärtig haben.“

Das möchte man doch vielen Zeitgenossen von heute direkt ins Poesiealbum schreiben!

Gerade im Jahr 2019 habe ich die Konversationen in Der Stechlin als besonders wohltuend empfunden. Viele Menschen heute hadern ebenfalls mit einer sich verändernden Welt – schaffen es aber bei Weitem nicht so souverän wie der alte Stechlin, Gewohntes und Überkommenes loszulassen, genauso wenig, wie es avancierte Eliten nicht über sich bringen, sich in diejenigen hineinzuversetzen, die nicht alles, was ihnen etwas bedeutet hat, so einfach über Bord werfen wollen. Das Ergebnis sind polarisierte, verhärtete Debatten, in denen der gute Ton meist flöten geht.

Ein wunderbares Lehrstück in Demokratie

Wie anders in Der Stechlin: Gesittet, in gesetzten Worten und gegenseitigem Respekt Argumente auszutauschen, aufeinander zuzugehen, Kompromisse zu finden, ohne die eigenen Ideale zu verraten, und nicht immer apodiktisch „Wahrheiten“ zu verkünden: Das ist doch eine wunderbare Übung in Demokratie, die uns Fontane hier vorführt. Und bei all dem bleiben er und seine Figuren auch noch so bewundernswert heiter und gelassen. Fontanes sanft-melancholischer Abschied von einer Epoche ist alles andere als ein Untergangsszenario. Der Stechlin vermittelt eine Dosis an Versöhnlichkeit und Optimismus, die unsere Welt gerade dringend gebrauchen kann.

Nicht zuletzt ist Der Stechlin ein Roman nicht nur über den Abschied von alten Zeiten, sondern auch vom Leben überhaupt. Er enthält einige sehr berührende, unpathetische Momente, in denen Dubslavs Gedanken das streifen, das hinter ihm liegt. Und am Ende geht er sehr tapfer dem eigenen Tod entgegen.

Ein Wiedererkennen: Die Ausstellung fontane.200 im Museum Neuruppin zeigte unter anderem ein „Fangeballspiel“. Mit einem solchen vertreibt sich im Roman Der Stechlin die Figur Armgard gerne die Zeit.

Der Roman vermittelt auf tiefsinnige Weise die Perspektive eines alternden Menschen, der schon etwas verloren hat und im Bewusstsein lebt, auf dieser Erde langsam den Platz für andere und anderes freigeben zu müssen. Fontane war fast 80, als er Der Stechlin schrieb, es sollte sein letzter Roman sein. Aus diesem Grund, aber auch wegen des gemächlichen Erzähltempos denke ich, dass man auch als Leser schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben sollte, um den Roman richtig wertschätzen zu können. Als Schullektüre hätte ich Der Stechlin vermutlich grauenhaft gefunden.

Nicht wegzudiskutieren ist freilich, dass zu den vielen dargestellten Anschauungen im Roman auch bedenklich antisemitisches Gedankengut gehört. Es fließt in Dubslavs Einstellung gegenüber dem jüdischen Geschäftsmann Baruch Hirschfeld ein. Immerhin: Auch das verwischt sich in der Relativierung von Rede und Gegenrede, man kann nicht sagen, dass der Roman eine antisemitische Haltung einnehmen würde. Wie es diesbezüglich um Fontane selbst bestellt war, müsste man an anderer Stelle fundierter diskutieren.

Unbeschwerter genießen konnte ich da Fontanes elaborierte und doch eingängige und sehr humorvolle Sprache – allein die Figurennamen: Kortschädel, Krippenstapel, Schmargendorf! Und die Landschafts- beziehungsweise Stadtbeschreibungen machten Lust auf Brandenburg und Berlin. Für mich persönlich ergab es sich sogar, dass in die Zeit der Lektüre ein Ausflug in Fontanes Geburtsstadt Neuruppin fiel. Da war das eine eine zusätzliche Motivation fürs andere. So kann ich jetzt sagen, dass ich das Fontane-Jahr zwar nicht umfassend, aber doch noch halbwegs würdig begangen habe.

  • Theodor Fontane, Der Stechlin, habe ich gelesen in der Ausgabe Jazzybee Verlag, 304 Seiten, 9,98 Euro.

Ein Kommentar zu “Theodor Fontane, Der Stechlin

  1. Pingback: Blogbummel zum Jahreswechsel – buchpost

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