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Ein Fest für Literaturwissenschaftler und ein raffinierter Kommentar zum Buchtrend der Stunde ist Delphine de Vigans Nach einer wahren Geschichte allemal. Doch ist der französische Bestseller deswegen auch ein guter Roman? Es handelt sich hier jedenfalls um Literatur, die um nichts anderes kreist als Literatur. Mich persönlich hat diese Selbstreferenzialität – bei aller Bewunderung – etwas unbefriedigt zurückgelassen.

Wirklichkeit, eine wie auch immer definierte „Wahrheit“, Fiktion: Wie viel von diesen Konzepten fließt in einen Roman ein, wie verhalten sie sich zueinander, wo verlaufen die Grenzen? Um diese Themen kreist Delphine de Vigans Buch. Es handelt sich um klassische Fragen, die sich vor allem in der Analyse von Texten seit jeher stellen, die aber angesichts der jüngsten Entwicklungen in der modernen Literatur neue Aktualität gewonnen haben. Wohin man auch blickt: Besondere Aufmerksamkeit ziehen seit ein paar Jahren vor allem Autoren auf sich, die auf der Grenze zwischen Fiktion und Realität wandeln.

Die Liste der Erfolgsbücher, bei denen man nicht sicher sagen kann, ob sie nun eigentlich auf die Belletristik- oder die Sachbuch-Bestsellerliste gehören, ist lang. Der Norweger Karl Ove Knausgård mit seiner radikalen Form des autobiografischen Roman-Schreibens ist hier ein prominenter Trendsetter. Aus Frankreich stammt die Bezeichnung Autofiktion für ein Genre, das Autobiografisches mit fiktionalen Handlungselementen verwebt und das mit Namen wie Annie Ernaux oder Édouard Louis verbunden wird. Nicht zuletzt wurden mit Saša Stanišićs Herkunft und David Wagners Der vergessliche Riese gerade zwei Bücher mit dem Deutschen beziehungsweise Bayerischen Literaturpreis ausgezeichnet, die ebenfalls Mischformen darstellen.

Delphine de Vigan hebt die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion auf

Hier reiht sich auch Delphine de Vigan selbst ein, die zunächst in Tage ohne Hunger die eigenen Erfahrungen mit einer Essstörung literarisierte, später in Das Lächeln meiner Mutter den Selbstmord der bipolar gestörten Mutter.

In Nach einer wahren Geschichte spielt sie nun so ziemlich alle Varianten durch, in denen sich Leben und Fiktion wechselseitig beeinflussen können, und lässt den Leser beständig im Unklaren darüber, auf welcher Seite der vermeintlich scharfen Trennlinie sich die Geschichte gerade bewegt. Oder besser gesagt: Die Autorin erklärt diese Trennlinie für obsolet, radiert sie aus.

Delphine de Vigan erzählt in der Ich-Form von einer Schriftstellerin namens Delphine, die gerade vom großen Erfolg ihres autobiografischen Mutter-Buchs etwas überfordert ist – und der sich vor allem die bedrängende Frage stellt: Was kann danach von ihr als Autorin noch kommen?

In dieser Lebensphase lernt sie auf einer Party eine Frau namens L. kennen, eine Ghostwriterin (Achtung, Achtung!) von Promi-Autobiografien. Die Frauen freunden sich an, entdecken ihre Seelenverwandtschaft. Doch in dem Maße, in dem L. sich zunehmend in Delphines Leben drängt, versinkt die Schriftstellerin in eine Schreibkrise, die sich zu einer völligen seelischen Lähmung auswächst. Dazu trägt L. bei, indem sie unnachgiebig einfordert, dass sich Delphine in ihrem nächsten Roman nicht mit ausgedachtem Pillepalle aufhält, sondern den begonnenen autobiografischen Seelen-Striptease auf die nächste Ebene führt.

Der rettende Engel wird zur Stalkerin

L. entwickelt bei alldem nach und nach stalkerhafte, übergriffige Züge. Nach außen gebiert sie sich als rettender Engel. Doch indem sie schließlich im Namen der depressiven Delphine E-Mails beantwortet und Manuskripte verfasst, bahnt sich eine Art unheimlicher Identitätsklau an.

In ihren Dialogen tauschen die beiden Protagonistinnen viele theoretische Argumente für und wider ein fiktionales/nicht-fiktionales Schreiben aus – während der Roman selbst eben diesen Konflikt in der Praxis durchexerziert.

Der Leser meint auf der einen Seite durchaus authentisch die inneren Kämpfe der realen Autorin Delphine de Vigan auf der Suche nach einem neuen Stoff zu erkennen. Auf der anderen Seite präsentiert sich Nach einer wahren Geschichte als fiktionaler Thriller – weniger beeinflusst also durch außer-literarische Wirklichkeit denn intertextuell anknüpfend an Stephen Kings Roman Misery, und, nebenbei bemerkt, in einer ausgesprochen flachen Sprache erzählt. Als Thriller entwickelt der Roman allerdings nur mäßige Spannung. Kaum besser wird die Sache durch genretypische Cliffhanger und Andeutungen. Die könnten freilich wiederum auch nur als Zitat zu verstehen sein.

Überhaupt sind die Strategien zahlreich, mit denen die Autorin den Leser verunsichert, welches Stil- und Handlungselement nun wie einzuordnen ist. Das gipfelt in der abschließenden metatextuellen und paradoxen Verwirrung darüber, ob und wie die Entstehung eben jenes Buchs, das man als Leser gerade in Händen hält, selbst Teil der Romanhandlung ist.

Okay, Delphine, du hast mich in der Falle

Bewusst unbeantwortet bleibt insbesondere die Frage, auf welcher Ebene zwischen Fiktion und Realität die Figur der L. anzusiedeln ist: „Existiert“ sie überhaupt, und wenn ja, dann „nur“ als Romanfigur oder etwa in der Lebenswirklichkeit? Ist sie eine Halluzination beziehungsweise ein Alter Ego der realen/der fiktiven Delphine de Vigan? Ist L. ein Produkt der Fantasie, eine Metapher und/oder eine Projektion von anderen literarischen Figuren auf wen oder was in der Realität auch immer? Ist sie Objekt oder Subjekt des vorliegenden Erzählens? Alle Varianten sind gleich schlüssig und ließen sich doch alle widerlegen.

Passend dazu vieldeutig ist die Bezeichnung L., die phonetisch dem französischen elle entspricht. Das kann das abstrakt Weibliche ebenso meinen wie ein psychoanalytisches Über-Ich oder vielleicht auch Stephen Kings Sie. Die Abkürzung L. könnte aber auch für die Leserin stehen – schließlich konfrontiert L. die Figur Delphine nicht zuletzt mit der Erwartungshaltung des Publikums.

Und damit sind wir als Leser*in auch schon mitten drin als Teil des Romans. Wir schreiben eine Rezension und äußern uns enttäuscht darüber, dass wir in dem Roman Existenzielleres, stärker über sich Hinausweisendes gesucht hätten als Reflexionen über „Wahrheit“ und Literatur – und schon sind wir Teil dessen, was die Autorin bereits mitgedacht hat. Wir beschweren uns über die Nabelschau einer Schriftstellerin mit Schreibblockade – sie streckt uns die Zunge heraus und fragt: Wer sagt, dass ich mich hier mit mir selbst beschäftige und nicht bloß einen literarischen Topos aufgreife? Wir googlen, ob Delphine de Vigans Partner tatsächlich François heißt wie im Roman (er tut es) – und tun damit das, was sie als typische Leserreaktion beschreibt.

Okay, Delphine, du hast mich in der Falle und sitzt am längeren Hebel. Das ist schon sehr, sehr klug gemacht.

  • Delphine de Vigan, Nach einer wahren Geschichte, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, DuMont Buchverlag, 352 Seiten, 11 Euro.

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