Wie lässt sich das Unsagbare in Worte fassen? Wie vom Holocaust berichten? Wo liegen die Grenzen des Erzählens, wie können und dürfen dazu welche künstlerischen Mittel eingesetzt werden? Diese Fragen wurden seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis in unsere Tage immer wieder aus jeweils verändertem historischen Abstand neu diskutiert. Eine zentrale Bedeutung kommt in dieser Debatte dem Werk Aharon Appelfelds zu: seinen zahlreichen Romanen, aber auch insbesondere seiner Autobiografie Geschichte eines Lebens, in der gerade die Grenzen des Sagbaren ausgelotet werden.
Aharon Appelfeld erzählt darin sein Leben – und er erzählt es auch nicht. Denn vieles bleibt ausgespart oder wird nur indirekt thematisiert. Geschichte eines Lebens ist kein kohärenter Lebensbericht, sondern besteht aus Schlaglichtern, Erinnerungsfetzen und Reflexionen, die der Autor chronologisch aufreiht und die zusammen doch ein höchst schlüssiges und eindringliches Bild seiner Biografie ergeben.
Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz als einziges Kind eines assimiliert lebenden jüdischen Ehepaars geboren, trug damals noch den Vornamen Erwin. Die Geschichte seines Überlebens während des Weltkriegs ist nahezu unglaublich – doch was heißt schon unglaublich in einer Zeit, in der das Unfassbare grausamer Alltag war?
Als er acht Jahre alt war, wurde seine Mutter bei einem antisemitisch motivierten Überfall ermordet. Erwin und sein Vater Michael wurden nach kurzer Zeit im Ghetto in ein Zwangsarbeiterlager getrieben und dort voneinander getrennt. Erwin gelang die Flucht, er schlug sich als Kind allein in den ukrainischen Wäldern durch, fand bei einer Dorfprostituierten Unterschlupf, lebte zeitweise unter der Obhut einer Räuberbande, war zuletzt Küchenjunge bei der Roten Armee. Nach Kriegsende führte ihn sein Weg über diverse Auffanglager bis nach Palästina. Dort kam er mit 14 Jahren sozusagen als „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ an, lernte Hebräisch, holte Schul- und Universitätsbildung nach, wurde Professor und Schriftsteller.
Hatte er bis dahin seine Kriegserlebnisse mehrfach zu mit Fiktion angereicherten Romanen verarbeitet, legte er 1999 seine Autobiografie Geschichte eines Lebens vor. Das Buch macht seinen lebenslangen Kampf um eine mögliche und richtige Art des Sprechens über seine Traumata deutlich.
Da ist auf der oberflächlichsten (und doch sehr tief gehenden) Ebene das Problem der Sprache. In Appelfelds Elternhaus wurde Deutsch gesprochen, mit den Großeltern kommunizierte er auf Jiddisch, in Czernowitz war er zudem vom Ukrainischen und Rumänischen umgeben. Appelfeld macht deutlich, wie er auf seinen langen Irrwegen im Krieg das Heimischsein in jeglicher Sprache verliert. Seine literarische Sprache wird schließlich das Hebräische, das er sich nach seiner Ankunft in Palästina beziehungsweise dem späteren Israel jedoch erst mühsam erkämpfen muss.
Das Schreiben in der spät erlernten Sprache mag ein Grund – aber sicher nicht der einzige – für seinen knappen, schnörkellosen Stil sein, der jedoch gerade in seiner Direktheit eine starke Wirkung entfaltet. Es ist höchst bewundernswert, wie Appelfeld im Schreiben zu einem unverwechselbaren Ton gefunden hat, der in seiner Schlichtheit doch so viele Facetten transportiert und ohne Pathos eine große Emotionalität birgt. Sein Stil geht unter die Haut.
Die Reduziertheit seiner Sprache hängt aber auch eng mit dem Inhalt zu zusammen. Angesichts der geschilderten Gräuel verbieten sich jede Effekthascherei oder verkünstelte Umschreibung. Für vieles fehlt Appelfeld sogar jeglicher angemessene Ausdruck, wie er einräumt. Was die Zeit im Arbeitslager betrifft, erklärt er, „noch keine Worte für jene Flecken gewaltiger Erinnerung gefunden“ zu haben:
Im Lauf der Jahre habe ich mehr als einmal versucht zurückzukehren, die Holzpritschen im Lager zu berühren, die dünne Suppe zu schmecken. Was bei diesen Bemühungen herauskam, war ein Gewirr von Wörtern, genauer gesagt: falschen Wörtern, ein misslungener Rhythmus, zu schwache oder übertriebene Bilder. Ein tiefes Erlebnis, das lernte ich schnell, lässt sich sehr leicht verfälschen. (Seite 57)
Es ist höchst nachvollziehbar, dass Appelfeld also mit Auslassungen arbeitet. Die Ermordung der Mutter wird in Geschichte eines Lebens lediglich knapp als Fakt erwähnt. Kein Wort fällt über die Umstände seiner Flucht aus dem Lager, das Zusammenleben mit Banditen oder die Befreiung durch die Rote Armee. Von den übersprungenen Abschnitten kann man aber auch nicht sagen, dass sie dem Leser „erspart“ blieben. Sie stehen in ihrer Unsagbarkeit dennoch bedrückend im Raum.
Bei anderen Gelegenheiten wählt der Autor den Umweg über Schlaglichter auf kurze Beobachtungen oder Berichte anderer Menschen. Sei es die Verfolgung eines Jungen durch eine wilde antisemitische Meute in einem Maisfeld oder der herzzerreißende Versuch einer Frau an einem Bahnhof, ein kleines Kind abzuschütteln, um es nicht mit in die Deportation nehmen zu müssen – alles sagt etwas über die Lebens- und Gefühlswelt aus, in der Appelfeld als Kind ums schiere Überleben kämpfte.
Eine weitere Grenze des Erzählens, die Appelfeld reflektiert, ist das Gedächtnis. An etliche Einzelheiten, die immerhin in seinem frühen Kindesalter liegen, erinnert er sich schlicht nicht. Zumindest nicht in Form von Worten oder beschreibbaren Bildern. Wie er beeindruckend ausführt, ist in vielen Fällen allein sein Körper, nicht aber sein Geist der Träger von Erinnerungen.
Schließlich stellt Appelfeld auch die schwierigen Bedingungen für das Erinnern und Berichten im jungen Staat Israel dar. Dort gilt anfangs die Devise, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nur nach vorne zu blicken. Dann möchte man aus der Zeit des Weltkriegs zur Erbauung des Volkes eigentlich nur jüdische Heldengeschichten hören. Holocaust-Überlebende stehen teils regelrecht unter Rechtfertigungsdruck, nach dem Motto: „Wie konnten die Juden all das nur so widerstandslos über sich ergehen lassen?“ Der tieferen Wahrheit der Geschichte über ihre Fiktionalisierung näher zu kommen, wie es Appelfeld versucht, ist verpönt. Akzeptiert wird nur der dokumentarische Bericht von Zeitzeugen. Den Holocaust zum Gegenstand von Kunst zu machen, hält man für unangemessen.
Mit feinem Gespür beobachtet Appelfeld, wie diese psychologische und gesellschaftliche Gemengelage zu einer Sprachlosigkeit der Holocaust-Überlebenden führt – und zu einer Entfremdung der folgenden Generation, nicht nur zu den Ereignissen im Krieg, sondern auch zu den Herkunftskulturen der entwurzelten Eltern.
Appelfeld selbst hat versucht, dieser Entwicklung mit den Mitteln der Literatur entgegenzuwirken. Er gab die innere Wahrheit seiner Erlebnisse in Form von Geschichten weiter, in denen er die Lücken des Vergessenen und Unaussprechlichen mit Fantasie ausfüllte. Und er erweckte die unwiederbringlich zerstörte Lebenswelt seiner Kindheit zum Leben. Mit seinem Tod am 4. Januar 2018 ist eine beeindruckende, wichtige und sehr wohlklingende Stimme der Erinnerung verstummt.
- Aharon Appelfeld, Geschichte eines Lebens, Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Rowohlt Taschenbuch, 208 Seiten, 10 Euro.
Interessante Besprechung. Dieses viel sagen durch wenig sagen, bzw. das Aussparen und der zumindest oberflächlich ganz gradlinige Stil, das fiel mir auch an den beiden Romanen auf, die ich bisher gelesen habe. Wobei die Erzählung selbst dabei zwar auch schlicht wirkt, aber schon sehr kunstvoll aufgebaut ist.
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Ja, der scheinbar emotionslose Stil von Aharon Appelfeld beeindruckt mich sehr. Welche Romane von ihm hast Du denn gelesen?
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