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Ja, diese Menschen soll es geben: Sie sind charismatisch, brillant und haben ein einnehmendes Wesen. Alles kreist um sie, sie bilden in jeder Gesellschaft den Mittelpunkt. Doch ihre Anziehungskraft und natürliche Dominanz kann auch ins Unterdrückerische kippen. Und hinter der starken Fassade gibt es eine überraschende Empfindlichkeit und Instabilität. Alles zusammen, so unwiderstehlich es ist, kann irgendwie unheimlich anstrengend werden.

Einem wunderbar gezeichneten Exemplar dieses Typus‘ begegnet der Leser in Zwei Schwestern von Dorothy Baker. Der Roman um die schillernde Figur Cassandra und ihre schwierige Loslösung aus dem symbiotischen Verhältnis mit ihrer ungleichen Zwillingsschwester Judith ist ein tiefgründiges Psychogramm, ein dichtes Kammerspiel vor Pool-Kulisse und zugleich eine messerscharf-ironische Komödie.

Die Autorin Dorothy Baker hatte mein Herz zunächst mit Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft erobert, ihrem Debüt von 1938. Im Zuge ihrer aktuellen Wiederentdeckung auf dem deutschen Buchmarkt wurde aber zuerst Zwei Schwestern veröffentlicht. Auch der Neuübersetzung dieses letzten und bekanntesten Werks Bakers hatte dtv schon einen nicht wiederzuerkennenden Titel verpasst. Im Original erschien Zwei Schwestern 1962 als Cassandra at the Wedding.

Gemeinsam haben beide Romane nicht nur, dass viel Alkohol durch ihre Seiten fließt, sondern vor allem den eleganten, präzisen Stil und die oft schneidende Ironie – was nicht heißt, dass der Inhalt nicht warmherzig und zutiefst menschlich wäre. In Zwei Schwestern entfaltet sich Dorothy Bakers sprachliche Brillanz ganz besonders in einer Reihe funkensprühender Dialoge, die zu lesen ein Genuss ist. Da verbessert etwa die scharfzüngige Cassandra die liebenswert-altbackene Großmutter für den falschen Gebrauch einer Vorsilbe:

„Ich bin nicht undisponiert, sondern indisponiert, und zwar weil ich umdisponiert habe und gestern gekommen bin. Und dann schlecht disponiert habe. So ist das.“ (Seite 120)

Großer Applaus an dieser Stelle auch für die Übersetzerin Kathrin Razum – wie auch immer diese Stelle im Original gelautet haben mag.

Was Form und Inhalt betrifft, unterscheiden sich die beiden genannten Romane hingegen sehr. Spannt Dorothy Baker in Ich mag mich irren… den erzählerischen Bogen über die ganze Lebensgeschichte des Jazz-Musikers Rick Martin, erstreckt sich die Handlung des intimeren Buchs Zwei Schwestern lediglich über wenige Tage.

Cassandra, zu fast 80 Prozent des Romans Ich-Erzählerin, reist aus ihrem Studentinnendomizil in Berkeley zur einige Autostunden entfernten elterlichen Ranch an, um der Hochzeit ihrer Zwillingsschwester Judith beizuwohnen. Für Cassandra ist die anstehende Vermählung ein alles andere als glückliches Ereignis. Denn es wird die Schwestern unumkehrbar voneinander trennen. Cassandra aber fühlt sich ohne Judith nur als halber Mensch, wollte mit ihr gemeinsam ein träumerisch-künstlerisch-intellektuelles Dasein in Paris führen. Dass sich ihr Alter ego stattdessen an einen mutmaßlich ganz und gar durchschnittlichen Arzt verschwenden möchte, will Cassandra nicht in den Kopf. Sie versucht, es zu verhindern. Die Ereignisse spitzen sich zu.

Dorothy Baker wusste schon, warum sie selbst nur Cassandra und nicht wie die deutsche Übersetzung beide Schwestern in den Titel nahm. Denn der Roman lebt in erster Linie von der markanten Protagonistin. So sehr diese überspannte, ambivalente, genialische Figur andere verletzen kann, so verletzlich ist sie selbst. Sie scheint stets auf einem schmalen Grat am Abgrund entlang zu spazieren. Doch im nächsten Moment könnte sie sich auch in höchste Höhen aufschwingen, während man bei Judith ahnt, dass sie ihr Leben lang am Boden bleiben wird. Zu ihr, die Cassandra doch aufs Haar gleicht, setzt die Autorin ihre Hauptfigur in Kontrast. Judith, die für ein Kapitel das Wort ergreifen darf und damit für einen augenöffnenden Perspektivwechsel sorgt, ist die Unkompliziertere, Konventionellere – und scheint im Gegensatz zu ihrer Schwester ein Talent zum Glücklichsein zu haben.

Dorothy Bakers Ehemann sagte einmal, die eigenen Töchter des Paars seien die Vorbilder für Cassandra und Judith gewesen. Ich könnte mir aber auch sehr gut vorstellen, dass es sich bei Cassandra um ein Selbstportrait der Autorin handelt. Beziehungsweise bei Cassandra und Judith um die Abbilder zweier Aspekte ihrer Persönlichkeit.

Es geht in Zwei Schwestern um das mühevolle Ringen um Individualität, ums Erwachsenwerden, um die schmerzliche Loslösung aus familiären Bindungen, auch um die Frage, ob und wie eine Identitätsfindung jenseits üblicher Frauenbilder und weiterer Konventionen möglich ist. Cassandra ist kaum verhohlen als lesbische Frau gezeichnet, ihre Umklammerung der Schwester hat etwas Inzestuöses an sich.

Als tragisch und witzig, funkelnd und tiefgründig habe ich Zwei Schwestern empfunden. Dorothy Baker zeigt sich erneut als unverwechselbare Erzählstimme. Nun bin ich gespannt, ob dtv noch einen weiteren Roman von ihr aus dem Vergessen retten wird.

  • Dorothy Baker, Zwei Schwestern, Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum, Mit einem Nachwort von Peter Cameron, dtv, 280 Seiten, 10,90 Euro.

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