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Mit Lady Slane hat Vita Sackville-West in ihrem Roman Unerwartete Leidenschaft eine ungewöhnliche Heldin geschaffen. Im Alter von immerhin 88 Jahren wagt sie auf sanfte, aber deshalb nicht weniger entschlossene Art eine Rebellion. Doch um dieses Werk von 1931 auch für das heutige Publikum zu einem Genuss und Gewinn zu machen, hätte es zumindest einer Revision der Übersetzung oder noch besser einer Neuübersetzung bedurft. In der deutschen Ausgabe, die der Wagenbach-Verlag vorlegt, wirkt das Buch leider ziemlich angestaubt und an mehr als einer Stelle sperrig.

Nachdem ihr Gatte, einst Vizekönig von Indien und gar englischer Premier, gestorben ist, wollen Lady Slanes sechs Kinder – selbst schon im Rentenalter oder nahe daran – das Leben der Greisin in die Hand nehmen und baldowern aus, dass die „einfach wunderbare“ alte Dame, wie sie ihre Mutter formelhaft bezeichnen, abwechselnd bei ihren Nachkommen wohnen soll. Lady Slane aber überrascht alle, indem sie verkündet, sie werde nun zur Miete allein in ein Häuschen im abgelegenen Stadtteil Hempstead ziehen, in das sie sich Jahrzehnte zuvor verliebt hat. Als sie dann auch noch gedankenlos einen Großteil des Familienschmucks an eine Schwiegertochter verschenkt, ist die Nachkommenschaft restlos konsterniert – zumindest der Teil, der leer ausgegangen ist.

Das Verständnis ihrer sie bis dahin bevormundenden Kinder ist Lady Slane allerdings auch herzlich gleichgültig, als sie auf ihre alten Tage einen neuen – zweifellos den letzten – Lebensabschnitt in Angriff nimmt.

Der Erinnerung der alten Dame folgend, erfährt der Leser nun, dass sie als junge Frau davon träumte, Malerin zu werden – am besten in Männerkleidern, in denen die reale Autorin Sackville-West übrigens durchaus gerne auftrat, etwa wenn sie wieder einmal mit ihrer Geliebten Violet Keppel nach Paris entflohen war. Lady Slane hingegen hat mit ihrer Eheschließung jegliches eigenständiges Leben aufgegeben, beschränkte sich auf die repräsentative Rolle an der Seite ihres Mannes und gebar ihm sechs Kinder, zu denen sie jedoch nie einen großen emotionalen Bezug aufbaute.

Das Grundthema des Romans liegt somit auf der Hand: die Einforderung von Frauenrechten, insbesondere auf ein selbstbestimmtes Leben beziehungsweise (künstlerische) Selbstverwirklichung. Vita Sackville-West geht dabei nach heutiger Lesart allerdings eher zurückhaltend vor – vielleicht wollte sie doch nicht allzu sehr anecken oder ihre Botschaft auf in ihrer Zeit verträgliche Art an den Mann und die Frau bringen? Von der selbstbewussten, herben Aristokratin, als die ich mir die Autorin vorstelle, hätte ich eigentlich mehr Biss erwartet.

Doch mit dem unterdrückerischen Ehemann lassen Vita Sackville-West und ihre Protagonistin viel Nachsicht walten. Und mit Lady Slane steht keine entschlossene Frauenrechtlerin im Mittelpunkt, wie man sie sich heute vorstellen mag. Statt einer kämpferischen „starken Frau“ begegnen wir hier einer geradezu lieblichen, vornehm zurückhaltenden Figur mit ihren Schwächen – oder sagen wir mit Eigenschaften, die in einer auf Wettbewerb, Protz und Äußerlichkeiten ausgerichteten Gesellschaft keine Anerkennung finden.

Vita Sackville-West schreibt damit auf mehreren Ebenen gegen das Patriarchat an – also nicht nur dagegen, dass weibliche Lebensentwürfe im Keim erstickt werden, sondern auch gegen einen „männlichen“ geistlosen Materialismus, wie er auch durchaus von Frauen vertreten wird – im Roman zum Beispiel von Lady Slanes bornierter Tochter Carrie.

In dieser Hinsicht zumindest hat das feministische Anliegen des Romans doch eine gewisse Aktualität behalten. Heute mag die Benachteiligung der Frau zwar subtilere Formen annehmen. Eine Frau kann mittlerweile natürlich Malerin werden – aber dann im Kunstbetrieb auf ganz andere Art unter die Räder kommen. Eine Textpassage in Unerwartete Leidenschaft wiederum erinnert stark an die heutige Regretting Motherhood-Debatte – und es wird offenbar, dass sich so manches kaum verändert hat.

Daneben gefallen mir in dem Roman einige Stellen, die eine Art Lob des Alters enthalten. Vita Sackville-West skizziert, wie das hohe Alter einem Menschen erst die Möglichkeit eröffnet, mit sich ins Reine zu kommen, Würde zu erlangen und inneren Frieden zu finden, jenseits von allem Streben in den vorigen Lebensabschnitten. Es ist nicht traurig, sondern erleichternd, dass bei Lady Slane mit ihren 88 Jahren All Passion Spent ist, wie es im Originaltitel heißt, in der deutschen Ausgabe von 1948 passender als Erloschenes Feuer wiedergegeben. Die im verfehlten neuen Titel evozierte Unerwartete Leidenschaft hingegen spielt bei Lady Slane eben keine Rolle mehr – obwohl sich die Witwe im Roman auf gleich drei mehr oder weniger neue Männerbekanntschaften einlässt.

Und doch: Trotz einer netten Grundidee und der zum Ausdruck gebrachten humanen Grundhaltung lässt Unerwartete Leidenschaft literarisch einige Wünsche offen. Formal erzählt Vita Sackville-West sehr konventionell. Der Spannungsbogen des Romans gleicht einer flachen Linie. Ich muss zugeben, dass mich nach einigen Seiten Lektüre immer wieder der Schlaf übermannte. Allzu betulich geht es ohne Höhepunkte dahin.

Außer der Protagonistin und ihrer französischen Zofe Genoux sind die übrigen Figuren wenig ausgearbeitet. Lady Slanes Kinder sind als reine Karikaturen gezeichnet. Die beiden jüngeren, etwas unkonventionelleren Kinder Kay und Edith, für die man etwas Interesse entwickelt, kommen nach ersten kurzen Auftritten nicht mehr vor.

Auch die Sprache hat es mir sehr erschwert, in den Roman hineinzufinden. Sie rumpelt durch ellenlange Sätze, unklare Formulierungen und manch schwer nachvollziehbare Gedankenkonstruktion, wobei eine Reihe von Druckfehlern das Leseverständnis zusätzlich behindern. Vieles davon mag freilich auf die in die Jahre gekommene Übersetzung zurückzuführen sein, „die in ihrer leichten Altertümlichkeit den Ton des Originals treffend wiedergibt“, wie es im Nachwort von Renate Schostack sehr freundlich umschrieben ist.

Den Status eines zeitlosen Klassikers kann Unerwartete Leidenschaft somit aus meiner Sicht nicht beanspruchen. Vielmehr erstaunt es mich, dass der Roman von 1931 bis heute nicht dem Vergessen anheim gefallen ist. Das mag vielleicht eher mit einem Interesse an der Person Vita Sackville-West liegen, die eine enge Freundin von Virginia Woolf war und als Vorbild für deren Orlando anderweitig in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Ob ihr als Mensch dieses außerliterarische Interesse tatsächlich gebührt, lasse ich mal dahingestellt. Sie als Autorin wiederzuentdecken, ist aus meiner Sicht aber kein Muss.

  • Vita Sackville-West, Unerwartete Leidenschaft, Aus dem Englischen von Hans B. Wagenseil, Mit einem Nachwort von Renate Schostack, Verlag Klaus Wagenbach, 240 Seiten, 11,90 Euro.

Ein Kommentar zu “Vita Sackville-West, Unerwartete Leidenschaft

  1. Pingback: Virginia Woolf, Orlando | BuchUhu

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