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Schön, dass ich knapp eineinhalb Jahre, nachdem sein Name bekannt gegeben wurde, noch immer zeitig genug dran bin, um ein Werk des aktuellen Literatur-Nobelpreisträgers zu besprechen. Nach der Lektüre von Was vom Tage übrig blieb kann ich der Entscheidung der schwedischen Akademie von 2017 im Nachhinein meinen Segen geben.

Was vom Tage übrig blieb ist wohl Ishiguros bekanntestes Werk. Insbesondere die Verfilmung aus dem Jahr 1993 mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen ist nachhaltig im kollektiven kulturellen Gedächtnis hängen geblieben. Die beiden Charakterdarsteller haben es geschafft, den Hauptfiguren, Butler Stevens und Hausdame Miss Kenton, ihren Stempel aufzudrücken.

Auch wenn ich den Film nun viele Jahre nicht gesehen habe, denke ich, dass er den Blick auf den Roman verstellt und man sich beim Lesen von den Klischees lösen muss, wie sie sich auch im Klappentext der aktuell verbreiteten Heyne-Taschenbuchausgabe wiederfinden. Dort wird das Buch in romantisch anmutendem brombeerfarbenen Schrifttypus als „bittersüße Liebesgeschichte zweier Bediensteter in einem englischen Herrenhaus“ verkauft. Dieses Label ist natürlich ebenso unzutreffend wie der auf demselben Umschlag zitierte Name „Miss Stenton“.

Freilich ist die unverwirklichte Liebe zwischen Stevens und Miss Kenton der rote Faden, der sich durch diesen von Melancholie geprägten Roman zieht. Doch es ist kein Zufall, dass im Vergleich dazu Reflexionen des Ich-Erzählers Stevens über die Rolle des „perfekten Butlers“ deutlich breiteren Raum einnehmen. Sie führen den Leser indirekt zu Gedanken über das Wesen der Demokratie und die Würde des Individuums. Auf beides singt Was von Tage übrig blieb ein Loblied, und zwar – das ist die hohe, subtile Kunst des Autors – aus der Perspektive eines Protagonisten, der dazu gänzlich andere Ansichten vertritt – und daran scheitert.

Für Stevens liegt die Qualität des perfekten Butlers genau darin, sich individuelle, persönliche Ansprüche eben zu versagen und sich ganz und gar in den Dienst seines Arbeitgebers zu stellen. Treu und mit unbedingter Loyalität versieht er seit vielen Jahren seinen Dienst im Anwesen Darlington Hall. Den Gipfel der „Würde“, die er aus Selbstentsagung, Perfektionismus und eiserner Disziplin zu beziehen glaubt, sieht er an einem Abend erreicht, an dem sein Vater in den Hinterzimmern der Bediensteten stirbt, er selbst sich währenddessen jedoch weiter mit tadellosen Umgangsformen um die kapriziösen Wünsche der Gäste einer Festgesellschaft im Herrenhaus kümmert.

Persönliche Gefühle versagt er sich auch gegenüber der Hausdame Miss Kenton, mit der sich über die Jahre bei täglichen Dienstbesprechungen unter vier Augen eine gewisse Vertrautheit entwickelt. Doch von der fortdauernden steifen Distanziertheit Stevens‘ vor den Kopf gestoßen, nimmt Miss Kenton schließlich den Heiratsantrag eines anderen an und verlässt Darlington Hall.

Was sich Stevens außerdem nicht erlaubt, ist eine politische Meinung. Mit dem typischen Satz „Das steht mir nicht zu“ fügt er sich in die Rolle des Untergebenen und legt diesbezüglich sein ganzes Vertrauen in seinen Dienstherrn Lord Darlington. Stevens schöpft derweil sein Selbstwertgefühl aus der Tatsache, dass er bei vermeintlich entscheidenden Momenten der Geschichte am Rande stehen darf, Speisen aufträgt, während die „Großen“ in Darlington Hall die Geschicke Europas lenken.

Tatsächlich aber geht die Geschichte über die unheilvollen Konferenzen und diplomatischen Geheimtreffen, deren Gastgeber Lord Darlington ist, hinweg. Das historische und moralische Urteil über seine Beiträge zur Appeasement-Politik gegenüber den Nazis während der Zwischenkriegszeit fällt im Nachhinein vernichtend aus. Und Stevens kann sich im Rückblick ebenfalls nicht mehr viel auf sein Schnuppern am – in diesem Fall eher übel riechenden – Odem der Geschichte zugute halten.

Wie Ishiguro seinen Ich-Erzähler Stevens in dem Roman allmählich an die Trümmer seiner Existenz führt, ohne ihn zu vernichten oder bloßzustellen, das ist literarische Kunst vom Feinsten; angefangen mit der Sprache, die der Autor dem Protagonisten verleiht: eine umständliche und gleichzeitig hochelegante, feine Ausdrucksweise, geklammert an Höflichkeitsfloskeln und streng kontrolliert. Zu zeigen, wie hinter dieser unantastbaren Fassade etwas in sich zusammensinkt, gelingt Ishiguro hervorragend.

Zu diesem feinen Kunstgriff gehört es auch, dem Leser einen Blick von außen auf Stevens zu ermöglichen, obwohl es doch ausschließlich der Butler selbst ist, der spricht. Wie weit ist es mit der von Stevens so viel beschworenen „Würde“ noch her, wenn er von feinen „Gentlemen“ vorgeführt wird? An seinem Beispiel wollen sie aufzeigen, dass „das einfache Volk“ gar nicht zur Beurteilung komplexer politischer Zusammenhänge in der Lage sei. Während der Butler selbst dieser Auffassung auch noch zustimmt, sträubt sich im Leser alles gegen den Snobismus und die Demütigung, die dieser antidemokratischen Haltung innewohnen. Und auch hinter Stevens‘ Stirn geht bei all dem doch sicherlich viel anderes vor, als er in wohl gesetzten Worten zum Ausdruck bringt – mag er es sich nun eingestehen oder nicht.

Die Doppelbödigkeit zwischen Stevens‘ überkorrekter, nicht hinterfragender Erzählung und dem, was der Leser im Ungesagten erkennt, führt an anderen Stellen auch zu sehr komischen Effekten. Insgesamt setzt uns Ishiguro mit Stevens einen zutiefst unzuverlässigen Erzähler vor. Die Unsicherheit seiner Erinnerungen bringt er selbst immer wieder zur Sprache: Eine Episode könnte sich bei dieser oder jener Gelegenheit zugetragen haben oder auch ganz anders – ein fein gewähltes Stilmittel, um zu symbolisieren, wie auch die vermeintlich festgefügte hierarchische Ständegesellschaft Risse bekommt und unumstößliche Gewissheiten einer Gesellschaftsordnung ins Wanken geraten.

Es ist nicht nötig, dass der Ich-Erzähler es ausspricht, damit der Leser es weiß – und weiß, dass es Stevens auch weiß: Die „Würde“, auf die er immer so viel Nachdruck legte – er hat sie nicht in der bedingungslosen Unterordnung und im Zurückstellen eigener Bedürfnisse erlangt. Er hätte sie in sich selbst finden können, indem er seinen Gefühlen gefolgt, sich als Bürger Meinung und Mitbestimmung zugetraut hätte. Er hätte aufbegehren sollen, als Lord Darlington zwei Zimmermädchen entließ, weil sie Jüdinnen waren.

  • Kazuo Ishiguro, Was vom Tage übrig blieb, Aus dem Englischen von Hermann Stiehl, Heyne Verlag, 288 Seiten, 9,99 Euro.

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