Mein Geständnis vorweg: Ich bin kein Thriller-Experte oder -Fan. Und ich bin es durch die Lektüre des Romans Geständnisse von Kanae Minato auch nicht geworden. Für mich blieb es eine rein auf Effekte hin konstruierte Rache-Geschichte, die zwar mit reichlich unvorhergesehenen Wendungen, aber kaum Spannung aufwartete. Durch Themen wie Mobbing und „Hikikomori“, das japanische Phänomen der Extrem-Stubenhocker, strebt der Roman offenbar eine gewisse gesellschaftliche Relevanz an. Außerdem war wohl beabsichtigt, den Leser durch den Blick in seelische Abgründe erschauern zu lassen. Doch für echte Einsichten und Abgründe bleibt das Ganze am Ende doch zu flach.
Dabei beginnt es eigentlich recht vielversprechend. Der Aufbau des Romans lässt literarische Ambition erkennen. In fünf etwa gleich langen Kapiteln sprechen fünf verschiedene Figuren, bevor sich in einer kürzeren Schlusssequenz der Kreis schließt und noch einmal die Protagonistin vom Anfang zu Wort kommt. Es handelt sich um die Lehrerin Yuko Moriguchi, die zu Beginn eine Ansprache vor ihrer Schulklasse der siebten Jahrgangsstufe hält. Dieser lange Monolog ist für mich auch schon der Höhepunkt des Romans. Er beginnt mit Erläuterungen dazu, wie und warum Moriguchi Lehrerin geworden ist. Hier fand ich die Mischung noch ziemlich gelungen: der abgeklärte, kalte, oft böse Tonfall, der einen halb frösteln lässt, halb mit gnadenlos rationalen, nihilistisch-klugen Gedanken erfrischt wie diesem:
„Viele Leute vergeuden ihr Leben mit Klagen, dass sie nie ihre wahre Berufung gefunden haben. Wahrscheinlich aber haben die meisten von uns gar keine. Warum also nicht einfach das wählen, was sich einem anbietet, und sich dann mit ganzem Herzen dafür einsetzen?“ (Seite 9)
Die Konzentration auf die direkte Rede der Lehrerin unter Ausblendung des gesamten Umfelds, vor allem der angesprochenen Schulklasse, deren Antworten und Rückfragen sich nur indirekt in den Antworten der Lehrerin widerspiegeln, ist ein interessanter, wenn auch künstlich wirkender literarischer Kniff. Gut gemacht ist es auch, wie sich das Thema von den relativ harmlosen allgemeinen Betrachtungen kommend immer mehr zuspitzt auf ein ungeheuerliches Geschehen: Moriguchis vierjährige Tochter ist im Schul-Swimmingpool ertrunken. Zuerst hat man es für einen Unfall gehalten. Die Lehrerin aber fand mit der Zeit heraus, dass zwei Schüler die kleine Manami getötet haben. Man kann nun zuschauen, wie sich die Schlinge um die Täter immer enger zuzieht. Höhepunkt ist dann Moriguchis Verkündung, auf welche Art sie an den beiden im Raum anwesenden Mördern Rache genommen hat. Das ist ein Knaller, den ich hier nicht verraten will – die erste von etlichen unvorhersehbaren Überraschungen, die man der Autorin zugute halten muss.
Hätte Geständnisse hier, also nach rund 50 Seiten, geendet – mein Eindruck wäre durchaus positiv gewesen.
Doch der Roman kann nach meinem Empfinden die Spannung nicht halten. Es beginnt damit, dass die folgenden Erzählsituationen teils nicht mehr sehr plausibel sind. Wie sich die Rache der Lehrerin entfaltet, berichtet etwa die Klassensprecherin in Form einer Erzählung, die sie bei einem Literaturwettbewerb einreichen will, in der Hoffnung, dass diese in einer Zeitschrift abgedruckt wird, die Moriguchi liest. Alles klar?! Dieses zweite Kapitel wird zu einem romantischen Mobbingdrama, das bestenfalls den Charme eines Vampirinternatsromans entfaltet.
Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt es, dass große Teile des Romangerüsts auf völlig falschen Vorstellungen von der Verbreitung des HI-Virus beruhen, ohne dass diese Irrtümer groß problematisiert würden. Kann man denn – selbst als japanischer Teenager – so desinformiert über die Übertragungswege sein? Abgesehen von logischen Problemen: Es ist grenzwertig, irrationale Ängste vor Aids als vermeintliches Spannungsmoment in einem Thriller zu missbrauchen statt ihnen entgegenzuwirken.
Ohne nun weiter in die Details zu gehen, sei gesagt, dass von Kapitel zu Kapitel das immer gleiche Geschehen, insbesondere die Tötung Manamis und die folgenden Wochen und Monate der sich entfaltenden Rache, aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert werden, jeweils ergänzt durch zusätzliche Informationen und Wendungen. Auch die beiden Schüler, die Manami auf dem Gewissen haben, kommen zu Wort, und ihre jeweilige Motivation wird deutlich – erweist sich jedoch als recht klischeebehaftet.
So schockt der Roman weniger mit tiefenpsychologischen Einsichten denn mit weiteren, leider nicht sonderlich nachvollziehbaren Morden, bis als Steigerung nur mehr ein Schulmassaker zu bleiben scheint. Strafmildernd möchte ich anfügen, dass Kanae Minato zumindest auf blutige Details und unnötige Grausamkeiten verzichtet. Und noch auf der letzten Seite zaubert sie wieder eine Pointe hervor. Was nicht darüber hinwegtäuscht, dass die Herstellung dieser Überraschungsmomente sie zunehmende Verrenkungen kostet.
Der Tonfall des Romans, der einen anfangs noch leicht frösteln ließ, wirkt in seiner Unterkühltheit im Lauf der Zeit nur noch distanziert, hält die Emotionen beim Lesen flach und verhindert eine Identikation mit den Charakteren. Sprachlich beschränkt sich der Roman auf die reine Informationsvermittlung, sodass ich auch nicht glaube, dass in der Übersetzung aus zweiter Hand – der Roman wurde befremdlicherweise aus dem Englischen statt aus dem japanischen Original ins Deutsche übertragen – viel verloren gegangen ist.
Ungeschickterweise macht Kanae Minato die mangelnde Tiefe ihres Romans dann auch noch selbst überdeutlich, indem sie unnötig den Namem Dostojewskis im Mund führt. Ihre Mörderfigur Shuya hat zwar Schuld und Sühne gelesen, ist nun aber wirklich nichts weiter als ein kindischer Raskolnikoff für Arme – genauso wie Geständnisse himmelweit von den moralischen Untiefen im Werk des russischen Meisterzählers entfernt ist. Denn der hat nun wirklich einen echten Thriller geschrieben.
PS: Im ganzen Buch kommt kein einziger Apfel vor.
- Kanae Minato, Geständnisse, Aus dem Englischen von Sabine Lohmann, Penguin Verlag, 272 Seiten, 10 Euro.