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Aharon Appelfeld war ein Autor, den ich bis zur Nachricht von seinem Tod am 4. Januar 2018 ehrlich gesagt nicht auf dem Schirm hatte. Nun, da ich ihn entdeckt habe, erscheint er mir aber als logisches fehlendes Glied in der Kette meines Leselebens.

Es ist gewiss kein Zufall, dass sich innere Verbindungen zwischen ihm und zweien meiner Lieblingsautoren auftun. Ein Rezensionszitat auf dem Bucheinband bescheinigt: „In Aharon Appelfelds Werk leben der Geist und die Sprache eines Joseph Roth fort.“ (DIE WELT) Ja, da ist was dran. Und auch mit dem großen Philip Roth – gestorben nur  viereinhalb Monate nach Appelfeld – gibt es Berührungspunkte. Roth war fasziniert von Appelfelds Erzählkunst, interviewte ihn für die New York Times, machte ihn gar zur Romanfigur (Operation Shylock). Auch das leuchtet mir gefühlsmäßig sofort ein.

Appelfelds Roman Blumen der Finsternis gehört in eine Reihe vieler eindringlicher und aufwühlender Zeugnisse des Holocaust und hat doch etwas ganz Eigenes an sich, das mir darüber hinaus persönlich sehr nahe gekommen ist. Die direkte Art der Sprache, die fließenden Grenzen von Traum und Realität, die in jeder Zeile spürbare Authentizität und die Liebe zu Außenseitern mögen Teile eines Zaubers sein, der sich aber als Ganzes schwer in Worte fassen lässt. Kühl betrachtet mag der Roman nicht perfekt sein. Ich habe die literarische Begegnung mit Aharon Appelfeld aber als große Bereicherung empfunden.

Ein Teil der Wucht, die von Blumen der Finsternis ausgeht, rührt sicher vom autobiografischen Hintergrund des Romans her. Es ist eine kaum fassbare Lebensgeschichte, von der Aharon Appelfeld hier einen kleinen, so gerade noch verdaulichen Ausschnitt verarbeitet.

Er erzählt die Geschichte des elfjährigen jüdischen Jungen Hugo, den seine Mutter vor der Verfolgung durch die Nazis bei einer Prostituierten versteckt. Hier haust er die meiste Zeit in einem winzigen, zugigen Bretterverschlag, einer Abstellkammer neben dem plüschig eingerichteten Zimmer, in dem Mariana Nacht für Nacht ihre Freier empfängt. Die seltsamen Laute, die Schreie, die Streitigkeiten, die er hört, kann der Bub nicht wirklich einordnen. Bis es der Liebesarbeiterin irgendwann gegen Mittag einfällt, ihm nach der Erholung von den Strapazen der Nacht etwas zu essen und zu trinken zu bringen, vergehen bange Stunden.

Und doch ist Mariana sein Fixstern. Sie umhüllt ihm mit süßlichen Koseworten, während sie voll Selbstmitleid in der dritten Person von sich redet und ihr Schicksal beklagt. Sie schwankt auf anstrengende Art manisch zwischen Depression und Kognac-induzierter Euphorie. Am Tag, wenn Mariana allein ist, darf Hugo aus seinem Verschlag heraus. Und wenn nachts einmal keine Kundschaft kommt, nimmt ihn Mariana zu sich ins Bett an ihren warmen Busen – eine Nähe, die bald ihre Unschuld verliert und in eine schwülstige Erotik kippt. Hier hätten nach meinem Geschmack Zwischentöne und Andeutungen eine größere Wirkung entfaltet als die etwas enervierende Wiederholung der körperlichen Annäherungen (ohne dass es freilich zu explizit würde).

Das nimmt dem Roman aber nichts von seiner Intensität. Aharon Appelfeld erzählt in einer Sprache, die mich unmittelbar gepackt hat. Er benutzt einfache Sätze, die gerade durch ihre Schlichtheit eine große Unmittelbarkeit herstellen und auch ohne Pathos oder ausgefallene Metaphern ihre Poesie entfalten. Vielleicht habe ich ja persönlich eine ganz besondere innere Verbindung zu dieser Art des Sprechens, weil Aharon Appelfeld genau wie meine Großeltern und mein Vater in der Bukowina geboren ist, nahe Czernowitz? Das könnte ich mir jetzt einreden, aber ich denke, Appelfelds unprätentiöse Sätze treffen auch jeden anderen Leser ins Herz.

Ein weiteres markantes Merkmal des Romans, das für den Leser aber auch eine Herausforderung darstellt, ist sein klaustrophobischer Schauplatz. Hugos Leben spielt sich in der Enge der Abstellkammer ab. Der einzige Raum, der sich ihm zeitweise öffnet, ist Marianas Zimmer im Freudenhaus. Doch auch von diesem begrenzten Ort ist er weitgehend abgeschnitten, nicht nur physisch, sondern auch durch sein unschuldiges Unverständnis.

So wie Hugos Handlungsspielraum auf ein Minimum reduziert ist, ist auch die Romanhandlung beschnitten, dreht sich zwangsweise immer wieder im Kreis. Der Junge befindet sich in einer Art Gefängnis, und die ständige Angst und der Verlust seines ganzen bisherigen Lebens lähmen ihn zusätzlich. Er schafft es nicht, irgendetwas zu tun, zu lesen oder Rechenaufgaben zu lösen, wie es ihm die Mutter aufgetragen hat. Und die zunehmende Gefahr der Entdeckung schnürt ihm zusätzlich die Luft ab – und nimmt auch dem Leser den Atem.

Eine umso bedeutendere Rolle nimmt seine Gedankenwelt ein. Hugos Fantasie und seine Träume öffnen ihm Fenster in die Vergangenheit, führen ihn zu seinen Wünschen und Hoffnungen, aber auch zu Ängsten und Schreckensvisionen. Der Kontrast zwischen dem Eingesperrtsein und den weiten Räumen der Seele verleiht dem Roman etwas Flirrendes.

Das Band zwischen dem jüdischen Jungen und der Prostituierten  entwickelt derweil eine Stärke, die wohl auch auf der Gemeinsamkeit des Ausgestoßenseins basiert. Sie, die gesellschaftlich Geächtete, und er, der rassistisch Verfolgte, stehen uneingeschränkt zueinander.

Mariana scheint keinen Moment darüber nachzudenken, dass sie ihre Hilfe für das Kind selbst in Lebensgefahr bringt. Hugo wiederum lässt sich von den vielen Schwächen Marianas nicht von seiner uneingeschränkten Liebe abbringen. Sie ist eine launische Alkoholikerin, die streckenweise vor allem mit sich selbst beschäftigt ist und einem gewaltig auf die Nerven gehen kann. Doch was sie auch tut, für Hugo ist und bleibt sie die Größte. Appelfeld hat hier eine großartig schwache Heldin geschaffen, die in aller Unperfektion ihre Würde behält – selbst als die Leute mit Steinen auf sie werfen. Das Bild dieser unvoreingenommenen, bedingungslosen und nicht zu kategorisierenden Liebe ist zutiefst menschlich und anrührend.

Zu wissen, dass Aharon Appelfeld als Kind, das, von den Eltern getrennt, vor den Nazis floh, selbst zeitweise Unterschlupf bei einer Dorfprostituierten fand, erklärt die Glaubwürdigkeit, die der Text ausstrahlt – bei allem, was einem an der Geschichte unglaublich erscheinen mag.

Der Autor schafft es, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust spürbar zu machen, ohne den Leser explizit zu den Gräueln der KZs zu führen, wie dies etwa Imre Kerzész oder Elie Wiesel tun. Bei Appelfeld resultiert der Schrecken aus einer hoffnungslosen Abgeschnittenheit von jedem und allem, was ein Leben einmal ausgemacht hat – aus dem Außerkraftsetzen aller Sicherheit und Logik.

  • Aharon Appelfeld, Blumen der Finsternis, Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Rowohlt Berlin, 320 Seiten, 19,90 Euro.
    [auch erhältlich als Rowohlt Taschenbuch, 9,95 Euro]

 

Ein Kommentar zu “Aharon Appelfeld, Blumen der Finsternis

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