Sie hat die eigenen Wünsche und Bedürfnisse immer hintangestellt, sich untergeordnet, ist ganz in der Fürsorge für andere aufgegangen: Aus feministischer Sicht kann man sich natürlich schon fragen, ob das Frauenbild, dem der Roman Als Mutter verschwand der Koreanerin Kyung-Sook Shin Tribut zollt, wirklich eine solche Hommage verdient. Andererseits ist das, was die Autorin hier schildert, eben Realität für etliche Generationen gewesen – nicht nur in Korea. Diesen Frauen zollt Kyung-Sook Shin berechtigten Respekt – leise, ohne zu urteilen, aber auch glücklicherweise ohne falsche Nostalgie. Als Mutter verschwand ist ein unaufdringlicher Roman, der um gegenseitige Anerkennung und Verständnis zwischen Menschen wirbt, die durch den Wandel der Zeit voneinander getrennt sind.
Als Mutter verschwand: Auf der Handlungsbene bezieht sich der Titel auf den Schlüsselmoment, in dem die 71-jährige So-Nyo Park eines Tages im Großstadtgewirr der U-Bahn in Seoul verloren geht. Sie und ihr Mann, beide vom Land, sind auf dem Weg, um die Kinder zu besuchen. Heute hat niemand Zeit, die Eltern am Zug abzuholen. Der Ehemann, der ihr wie immer einige Schritte vorauseilt, ohne sich groß nach ihr umzusehen, ist in den einfahrenden Zug gestürmt. Erst eine Station später merkt er, das die Frau, die über 50 Jahre an seiner Seite war und stets auf ihn wartete, am Bahnsteig zurückgeblieben ist. Die nun einsetzende Suche durch den Vater sowie die vier erwachsenen Kinder bleibt ergebnislos – über Stunden, über Tage, Wochen und schließlich Monate.
Mehrere Menschen wollen auf den ausgehängten Flugblättern eine Frau wiedererkannt haben, die abgerissen und mit wunden Füßen in blauen Plastiksandalen durch die Straßen von Seoul irrt. Die Frage, ob es sich dabei um die Mutter handelt, lässt schaudern und trägt als Spannungsmoment über Teile des ansonsten recht verhalten erzählten Romans.
Vom Verschwinden der Mutter aus rollt der Roman in vier Kapiteln die Familiengeschichte auf. Erzählt wird über weite Strecken in Du-Form, was inhaltlich wegen der altruistischen Haltung der Mutter durchaus Sinn ergibt, sich aber im Deutschen etwas sperrig liest. Zunächst geht es vorwiegend um das Verhältnis der Mutter zur älteren Tochter und ihrem älteren Sohn, dem Liebling, für den sich die Mutter nichts sehnlicher wünschte als eine Karriere als Staatsanwalt. Dafür, dass er dieses Ziel nicht erreicht, fühlt sich die Mutter Zeit ihres Lebens schuldig. Sodann gewährt der Roman Einblick in die arrangierte Ehe der Eltern, geprägt von wochenlangen Ausbrüchen des Vaters mit anderen Frauen. Die Mutter arbeitet sich derweil auf, um mit dem Anbau von allerlei Feldfrüchten und deren eifrigem Konservieren gegen die allgegenwärtige Angst vor dem Hunger anzukämpfen. Doch sie will noch mehr: ihren Kindern Schulbildung ermöglichen und sicher stellen, dass sie es einmal besser haben.
Mindestens zwei Drittel des Romans sind vorbei, als der Leser erfährt, dass die Protagonistin auch einen Namen hat. Und der Text enthüllt, was der Leser, vor allem aber So-Nyo Parks Familie kaum für möglich gehalten hatten: Diese Frau hatte auch ein eigenes Leben und ein paar Geheimnisse. Sie spricht nun in der Ich-Form.
Für Mann und Kinder aber war So-Nyo Park schon lange vor dem Missgeschick in der U-Bahn verschwunden. Als Mensch haben sie die aufopferungsvolle Mutter aus den Augen verloren. Zum Ende hin scheinen die Angehörigen nicht einmal ihre fortschreitende Demenz wahrgenommen zu haben. Dass sie sich ihrer Versäumnisse erst bewusst werden, als die Mutter auch körperlich abwesend ist, ist natürlich eine nicht ganz klischeefreie Konstellation, die aber auch eine Reihe von ehrlich anrührenden Momenten birgt.
Dass die Geschichte dem Leser nahe geht, liegt sicher auch daran, dass einige Aspekte des Mutter-Kind-Verhältnisses einfach universell sind. Als Mutter verschwand erzählt vom radikalen Wandel der Lebenswelt und -weise von einer Generation zur anderen. Ist die Mutter noch Analphabetin, deren Leben aus harter Arbeit auf dem Feld und in der Küche besteht, wird ihre Tochter zur anerkannten Schriftstellerin, die für Lesungen, Buchmessen und zum Privatvergnügen um den Globus jettet und die mit Mitte 30 noch unverheiratet und kinderlos ist. Das Telefonat mit der Mutter kann da schon mal zur nervigen Pflicht werden – und man wird ihr auch unbedingt einmal ausreden müssen, dass sie zu jedem Besuch mit Unmengen an Speisevorräten anrückt, die eigentlich kein Mensch braucht. In solchen Szenen kann ich jedenfalls sehr gut meine Eltern und mich wiedererkennen. Und übrigens auch meine Eltern und deren Eltern.
Als Mutter verschwand legt nahe, dass mit der Modernisierung des Alltagslebens auch etwas verloren gegangen ist, ein Stück Nestwärme und familiäre Geborgenheit. Den alten Familienstrukturen und -zwängen weint der Roman trotzdem keine Träne nach. So-Nyo Park, die für sich selbst nie an eine Form von Selbstverwirklichung denken konnte, ist enttäuscht, als sie beobachtet, wie ihre jüngere Tochter eben nicht die hart erkämpfte Freiheit lebt, sondern nun selbst drei kleine Kinder am Bein hat. Mit der Emanzipation scheint es allem Wandel zum Trotz noch nicht so weit her zu sein. Hier beschreitet der Roman auf leisen Sohlen die Gratwanderung zwischen einem Loblied auf die Mütterlichkeit und der Entidealisierung des Mutterbildes.
- Kyung-Sook Shin, Als Mutter verschwand, Aus dem Koreanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann, Piper Taschenbuch, 256 Seiten, 11 Euro.