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Sind  in diesem Band tatsächlich „Die besten Stories“ von T. C. Boyle versammelt, wie es der Verlag im Untertitel verspricht? Ich hab ja oft ein etwas ungutes Gefühl des Ausgeliefertseins, wenn ich mich der willkürlichen Auswahl irgendeines Lektors überlasse, der, wie in diesem Fall, Erzählungen aus verschiedenen Schaffensperioden eines Autors  und aus unterschiedlichen Zusammenhängen zusammenklaubt und zu einer angeblichen Best-of-Auswahl vereint. Dieses Buch existiert mutmaßlich nirgendwo anders als auf dem deutschen Buchmarkt und nur deshalb, weil dtv nach einem Weg der wirtschaftlichen Zweitverwertung älterer Texte gesucht hat. Das ist auch legitim, aber ich sträube mich dagegen, hier das Buch  Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte als Ganzes zu besprechen. Ich möchte stattdessen ein paar Gedanken zu den acht enthaltenen, für sich stehenden Erzählungen teilen. Sie sind – um nach der etwas miesepetrigen Einleitung zum Positiven zu kommen – teils gut, teils großartig.

Moderne Liebe ist eine zum Schreien komische, bösartig überspitzte Satire auf amerikanischen/westlichen Hygienewahn. Das Stichwort „Ganzkörperkondom“ sagt alles! Hintergründig und scharf, wie es sich für T. C. Boyle gehört, geht es hier natürlich um weit mehr als den individuellen Sauberkeitsfimmel einer Frau. In ihrem Spleen schwingen die ganze Entfremdung des modernen Lebens von der Natur sowie der Kontrollwahn, die Paranoia, der Chauvinismus und die Fremdenfeindlichkeit einer Gesellschaft mit, die die Menschlichkeit verlernt hat. Insofern empfand ich diese Erzählung als nahtlosen Anschluss an den Roman América, der mich unmittelbar zuvor begeistert hatte.

Wenn der Fluss voll Whisky wär hat – trotz des albern anmutenden Titels – einen vollkommen anderen, ganz und gar ernsthaften Tonfall und hat mich tief berührt. Im Mittelpunkt steht ein kleiner Junge, der mit seinen übel streitenden Eltern einen Urlaub in einem Haus am See verbringt und beim Angelausflug um einen Moment der Gemeinsamkeit mit seinem alkoholkranken Vater ringt; und damit auch um etwas Würde für einen kaputten Menschen. Das erzählt T. C. Boyle lakonisch und ohne Larmoyanz – und gerade dadurch ist es so tieftraurig. Man kann ahnen, dass hier autobiografische Erfahrungen mitschwingen, denn T. C. Boyle ist selbst als Kind zweier Alkoholiker aufgewachsen.

Windsbraut – auch schön, aber weniger mein Geschmack. Ich hab’s nicht so mit skurrilen, eigenbrötlerischen Gestalten, die hier scharenweise die Shetland-Inseln bewohnen. Über sie fegen Comic-artig übertriebene Stürme hinweg – über einen von ihnen auch ein Sturm der Liebe, immerhin mit ergreifend-melancholischem Ende. Jenseits vom stark beanspruchten Klischee der eigenwilligen Gestalten, die in Literatur und Film doch allzu viele abgelegene Landstriche der Erde bewohnen, geht es hier letztlich auch um die Hoffnung, dass die Liebe einen Menschen (einen Mann) aus seiner Isolation und Orientierungslosigkeit befreien kann. Dieser romantische Ansatz versöhnt mich. Der ganze Slapstick drumherum ist wahrscheinlich nötig, damit es nicht zu kitschig wird.

Torschlusspuder knüpft ein wenig an diese Linie an. Dieses Mal geht es um einsame Männer in Alaska, die im Besuch einer organisierten Reisegruppe von Single-Frauen die Chance auf mögliche Zweisamkeit und überhaupt auf Anschluss an die Welt da draußen erblicken. Dieses Mal führt T. C. Boyle die Handlung konsequent und mit schwarzem Humor in die Desillusionierung und gar in die Gewalt. Zu dieser Erzählung habe ich am wenigsten Zugang gefunden.

Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte ist vielleicht die komplexeste, am raffiniertesten aufgebaute Erzählung in diesem Band, die den Leser am meisten herausfordert, Verbindungen herzustellen oder Uneindeutiges auszuhalten. Zu lesen ist sie freilich trotzdem spannend und mitreißend wie die anderen Storys auch. Es geht erneut um die Verheerungen des Alkohols in Familien, um Eltern-Kind-Beziehungen, um Verlust, um Schmerz, aber nie um Verurteilung. Voller Tiefgang und Menschlichkeit.

Demgegenüber ist Zu allem bereit wieder eine dieser gesellschaftskritischen, herrlich zynischen Satiren, in denen Boyle uns den Spiegel vorhält. Eine Familie lässt sich von einem skrupellosen Geschäftemacher in eine Weltuntergangs-Paranoia hineinziehen und gibt ihre bürgerliche Existenz auf, um sich fernab im Wald einzubunkern und, ausgestattet mit Waffen und Lebensmittelvorräten, die Apokalypse zu erwarten. Man muss die sozialen Medien nicht lange durchforsten, um festzustellen, dass es solche Charaktere, die hier als satirisch überspitzt erscheinen, wirklich gibt. Gleichzeitig erkennt man mit Erschrecken das ein oder andere eigene Verhaltensmuster wieder. Genial – und das Lachen bleibt einem wieder mal im Halse stecken.

Chicxulub greift das Motiv des Verlusts eines Kindes auf, das schon in  Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte vorkommt. Die Handlung ist montiert mit wissenschaftlichen Fakten zu Asteroideneinschlägen. Das ergibt ein nettes, kleines Stück über die Zerbrechlichkeit des Glücks, vielleicht ein wenig zu sehr auf die Pointe hin konstruiert, aber jedenfalls gekonnt erzählt.

Zähne und Klauen führt ein surreales, metaphorisch aufgeladenes Element ein, das mich an die phantastischen Erzählungen von Julio Cortázar erinnert. Ein junger Mann, der ansonsten ziemlich ziellos durch Bars und Gelegenheitsjobs treibt, gelangt unerwartet in den Besitz eines Servals, einer Wildkatze in einem Käfig, die er als Haustier mit in seine Wohnung nimmt. Noch eine von Boyles einsamen Männerfiguren, die sich in ihrer Orientierungslosigkeit am Whiskyglas festhalten – alle Erzählungen in diesem Band nehmen übrigens eine männliche Perspektive ein -, noch eine enttäuschte Liebe. Witz und Melancholie ergeben hier wieder einen wirkungsvollen Kontrast.

Nach Lektüre dieses Bands bleibt kein Zweifel: T. C. Boyle ist ein Erzähler voller Finesse. Seine Mischung aus Satire, Tiefgang und scharfsichtiger Gesellschaftskritik funktioniert auch in der kurzen Form hervorragend. Er kann boshaft sein, wendet sich aber nie gegen das Individuum, dessen Schwächen er alle selbst durchlebt zu haben scheint. Er bringt mich zum Lachen, Nachdenken und (fast) zum Weinen.

  • T. C. Boyle, Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte. Die besten Stories, dtv, 224 Seiten, 9,95 Euro.

4 Kommentare zu “T. C. Boyle, Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte

  1. Manchmal finde ich es schade, daß ich in meiner momentanen Wahlheimat Kambodscha nur schwer an Bücher gelange, die ich gerade gern lesen möchte. T. C. Boyle gehört unbedingt dazu. Zugegeben, ich habe ein gestörtes Verhältnis zur amerikanischen Politgeschichte, aber Boyle zeigt immer wieder, daß es mit einen treffsicheren Blick auf die Menschen in diesem wunderschönen Land gelingt, sogar „América“ als ein Potenzial für eine positivere Hoffnung zu begreifen. Good on you! Eine Auswahl durch Verlagslektoren wird immer problematisch sein. Was die „besten Stories“ von . . . sind, das sollte man gefälligst den Lesern von kompletteren Ausgaben überlassen. Das gilt von Hemingway bis Tolstoi, von Jack London bis Poe usw., und die Liste ist lang. „Lands End“ ist noch nicht erreicht.

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