Beim Lesen kann man sich wohlfühlen und einfach ein bisschen glücklich sein: Wenn jemand mit diesen Worten ein Buch anpreist, schrillen bei mir eigentlich die Alarmglocken. Auf Ein Monat auf dem Land von J. L. Carr aber trifft diese Beschreibung zu – ganz ohne den faden Beigeschmack von Kitsch, Esoterik oder Infantilität sonstiger angeblicher „Feelgood“-Bücher. A Month in the Country erschien in England bereits 1980 und wurde für den Booker-Preis nominiert. Die deutschen Leser mussten bis 2016 auf eine Übersetzung warten. Die Wiederentdeckung hat sich gelohnt. Denn dieser warmherzige kurze Roman nimmt uns mit in ein Idyll, ohne dass es ins Klebrig-Süße oder Klischeehafte abgleitet.
Den titelgebenden Monat auf dem Land verbringt der junge Restaurator Tom Birkin, der im nordenglischen Dorf Oxgodby in Yorkshire damit beauftragt ist, in der örtlichen Kirche ein mittelalterliches Deckengemälde freizulegen. Als Ich-Erzähler berichtet er aus zeitlichem Abstand über seine Erlebnisse jenes Sommers. Sonne, unverdorbenes Landleben, ein paar verschrobene Dorfbewohner mit großem Herz, auch eine zarte, unerfüllbare Verliebtheit: All das gehört dazu, wirkt hier aber keineswegs so abgegriffen, wie es vielleicht klingen mag.
Das liegt an den Rissen und Brüchen, die unter der idyllischen Oberfläche versteckt sind wie das mittelalterliche Meisterwerk unter einer jahrhundertealten Rußschicht in der Kirche. Tom stottert und hat Zuckungen – offenbar Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nach seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg. Was genau er dort erlebt hat, wird im Roman nicht ausformuliert. Die unterschwelligen Hinweise, dass er als gebrochener Mann zurückgekommen ist, sind jedoch ein nicht weniger wirksames literarisches Mittel, um die Schrecken des Krieges spürbar zu machen. Als unsichtbarer Hintergrund liegen sie dem Sommeridyll zugrunde. Das verleiht dem ansonsten klischeegefährdeten Roman seine innere Spannung.
Dieselbe versteckte Gebrochenheit im Kontrast zum luftig-leichten äußeren Bild wohnt auch weiteren Hauptfiguren inne. Etwa dem Archäologen Moon, der auf einem Feld neben der Kirche nach den mutmaßlich dort, außerhalb des Friedhofs, beerdigten Überresten eines Vorfahren seiner Auftraggeberin sucht. Diese Mäzenin hat sowohl Moons Forschungen als auch Birkins Gemälderekonstruktion testamentarisch verfügt und zur Voraussetzung für eine größere Erbschaft an die Gemeinde gemacht. Zwischen Moon und Birkin, die auf diese Weise beide als teils argwöhnisch beäugte Außenseiter ins Dorf gekommen sind, entwickelt sich eine tiefe Männerfreundschaft.
Im Unausgesprochenen bewegt sich auch die zarte Annäherung zwischen Birkin und Alice Keach, der hübschen Ehefrau des Dorfpfarrers. Auch da ist es ein schmaler Grat zwischen Romantik und Stereotyp, den der Roman beschreitet. Es ist kein einzigartiges Sujet, aber ich habe eine Schwäche für solche unverwirklichten Liebesgeschichten. Ich war berührt.
Die Zeit auf dem Land, die allmähliche Integration ins Dorfleben, die Freundschaften und auch die künstlerische Erfüllung – Birkin fördert an der Kirchendecke ein wahres Meisterwerk zutage – entfalten ihre heilsame Wirkung auf seine Seele. Doch ebenso wie der Schatten der Vergangenheit wohnt den schönen Tagen auch immer schon die Melancholie des Abschieds inne. Jeder Sommer wird einmal zum Herbst. Birkin wird in ein komplizierteres, graueres Leben zurückkehren. Und dem Leser entfährt ein tiefer Seufzer, dass dieses feinsinnige, elegante Büchlein so rasch zu Ende ist. Denn so einfach und federleicht der Roman auch wirkt – etwas ähnlich Beglückendes ist nicht leicht zu finden.
- J. L. Carr, Ein Monat auf dem Land, DuMont, 158 Seiten, 10 Euro.