Joseph Roths Radetzkymarsch ist der Inbegriff des von Wehmut, aber auch leiser Ironie durchtränkten Abgesangs auf eine untergegangene Epoche. Doch Radetzkymarsch ist natürlich längst nicht nur Balsam auf die Seelen von k.u.k.-Nostalgikern, sondern hat uns auch heute, in Zeiten des wiedererstarkenden Nationalismus, viel über das Unheil zu sagen, das auf diese Weise wiederholt über Europa gekommen ist. Es ist sicher kein Zufall, dass Roths Roman erstmals 1932 erschien, als sich ebenfalls gerade ein Zeitenwechsel hin zum Unguten abzeichnete.
Radetzkymarsch ist zugleich eine Geschichte von Vätern und Söhnen. Die Mütter kommen nicht vor und auch sonst sind Frauen im Roman allenfalls – tendenziell Verhängnis bringendes – Beiwerk. Doch dazu später. Roth erzählt die letzten 60 Jahre der habsburgischen Donaumonarchie entlang von drei Generationen der Familie von Trotta – wobei die Enkelgeneration in Person von Carl Joseph von Trotta am meisten Raum einnimmt.
Dessen Großvater Joseph von Trotta ist sozusagen der Ahnherr des Geschlechts. In der Schlacht von Solferino 1859 rettet er im Feld dem damals noch jungen Kaiser Franz Joseph das Leben. Zum Dank wird er in den Adelsstand erhoben – und damit seiner bäuerlichen Herkunft aus dem slowenischen Dorf Sipolje endgültig entfremdet. Schon zu Josephs Zeit wird freilich deutlich, wie brüchig die Fassade der Monarchie ist. In einem Schulbuch entdeckt er eine verklärte, ja vollkommen verfälschte Schilderung der Tat des „Helden von Solferino“. Glanz und Gloria sind also damals schon mit Hilfe von fake news konstruiert. Joseph bittet in einer Audienz beim Kaiser um die Korrektur der offiziösen Geschichtsschreibung, jedoch ohne Erfolg. Es ist der Beginn einer weiteren Entfremdung. Joseph quittiert den Militärdienst und lenkt auch seinen Sohn Franz Joseph auf eine Karriere abseits des Soldatischen.
Der wird dann eben im zivilen Bereich zum treuen Diener der Monarchie, und zwar als Bezirkshauptmann. Franz Joseph, der schon den Namen des Kaisers trägt, ist der wohl am ungebrochensten mit dem Habsburgerreich und seiner Lebensweise verbundene Vertreter der Familie von Trotta. Joseph Roth schildert dieses Einssein mit sich und seiner Zeit freilich nicht als reines Idyll, sondern akzentuiert mit reichlich Ironie auch die Formelhaftigkeit und Beschneidung von Gefühlen und Individualität, mit denen der regelkonforme, „gerade“ Weg erkauft ist. Eine herrliche Parodie auf diese Art des Österreichertums ist etwa die Szene des ritualisierten sonntäglichen Verspeisens des Tafelspitzes.
Einen Kontrast zum beschaulichen, obrigkeitsgefälligen Leben des Bezirkshauptmanns bildet dessen Schulfreund, der als sensibler Künstler die vorgegebenen Pfade verlässt und als heruntergekommener Maler Moser ein Lotterleben in Wien führt. Im Zusammenhang mit dem alten Freund offenbart Franz Joseph auch erstmals im Roman menschlichere Facetten jenseits der Sicherheit spendenden Korrektheit. Diese Seite seines Charakters wird zum Ende des Romans hin ein immer stärkeres Gewicht gewinnen. Wenn er immer wieder über seinen Schatten springt, sich erstaunlich tolerant und kampfbereit zeigt, da es um das Glück seines Sohnes geht, wird er für mich zum wahren Helden des Romans.
Das Leben des besagten Sohnes Carl Joseph verläuft weit weniger geordnet, sondern ist von vielerlei Leidenschaften und Abwegen geprägt. Schon als Teenager lässt er sich von einer verheirateten Frau verführen – und macht erstmals Bekanntschaft mit dem Tod, als sie stirbt. Der Kondolenzbesuch beim Witwer, den Carl Joseph als Ranghöherer, als unantastbarer Enkel des „Helden von Solferino“, absolviert, ist ein trauriges Schauspiel der Amoralität und Verlogenheit des monarchischen Ständewesens.
Auch als Leutnant beim Militär wird Carl Joseph mit der grausamen Absurdität des Systems konfrontiert. Durch einen Flirt mit der Frau seines besten Freundes zwingt er diesen in ein ungewolltes Duell mit einem Dritten und verschuldet damit indirekt seinen Tod. Die wahre Schuld liegt freilich beim Festhalten an einem überkommenen, starren militärischen Ehrbegriff.
So geht es mit Carl Josephs Moral und seiner Identifikation mit dem Reich weiter bergab. Er lässt sich weit weg, an den östlichen Rand der Monarchie, versetzen. Hier verfällt er dem Alkohol, gerät teils durch Solidarität mit spielsüchtigen Kameraden, teils durch eine weitere fatale Liebschaft in eine Schuldenspirale und gelangt an seinen Tiefpunkt, als er einen Schießbefehl auf eine Schar demonstrierender Arbeiter erteilt.
Zeiten des Aufruhrs brechen an, die alte Ordnung gerät aus den Fugen, ein gealterter Kaiser verliert an Strahlkraft und wird von neuen Nationalismen und Fliehkräften im Vielvölkerstaat abgelöst. Carl Joseph von Trotta hat in dieser Gemengelage längst seinen inneren Kompass verloren, während sein Vater Franz Joseph nur mit tiefer Trauer zuschauen kann, wie eine Welt, die ihm einst Sicherheit bot, unwiederbringlich verloren geht.
All das schildert Joseph Roth mitreißend und lebendig, mit melancholischem Grundton, ohne gefühlig zu werden, voller Empathie und doch Humor und einer gewissen Brechung. Die Handlung verläuft chronologisch, aber immer wieder überrascht Roth mit perspektivischen Finessen, die das Werk bis heute modern wirken lassen. Radetzkymarsch ist ein Buch zum Verschlingen und, ja, auch zum Schwelgen in einer gewissen Kostüm-Nostalgie, wird aber nie platt-verklärend. Die k.u.k.-Epoche wird mit Sympathie und doch aus meiner Sicht mit ausreichend Distanz, Differenziertheit und Reflexion betrachtet.
„Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland zertrümmert“, hat Joseph Roth gesagt. Mit der k.u.k.-Monarchie habe er ein geliebtes Vaterland verloren, das ihm erlaubt habe, zugleich Patriot und Weltbürger zu sein. Beim Lesen von Radetzkymarsch konnte ich mich nicht erwehren, die Handlung auf die Jetzt-Zeit zu übertragen. Befinden wir uns etwa auch in der Dämmerung einer Epoche? Allzu viele Menschen scheinen unserer Ära ja in irgendeiner Form überdrüssig zu sein und Lust zu verspüren, etablierte Werte und gut begründete Tabus über Bord zu werfen und zu diffamieren, und setzen dabei eine Ordnung aufs Spiel, in der wir uns doch gerade recht gemütlich eingerichtet zu haben schienen. Rechtspopulisten – die teils sogar an der Macht sind – bedienen sich eines Vakuums, um es mit Parolen von Nationalstolz und Chauvinismus auszufüllen. Steuert die Europäische Union als eine Art transnationales „Vaterland“ ebenfalls dem Untergang entgegen und muss wieder nationalen Egoismen und Feindseligkeiten weichen – mit allen bekannten katastrophalen Konsequenzen?
Ich schaue lieber auf die Menschen, die bei „Pulse of Europe“-Demonstrationen EU-Fahnen schwenken, und hoffe, das Zuhause, das mir erlaubt, Weltbürger zu sein, nie zu verlieren.
- Joseph Roth, Radetzkymarsch, dtv, 416 Seiten, 9,90 Euro.
[Abbildung zeigt eine andere alte Ausgabe aus der Familienbibliothek, nämlich: Lizenzausgabe für die Mitglieder des Deutschen Bücherbundes, mutmaßlich 1970er-Jahre]
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