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Er flieht nach einem Duell nach Italien, zieht von dort mit der spanischen Armada in die Seeschlacht von Lepanto, wird, als er mit verkrüppelter Hand, doch als Kriegsheld nach Spanien heimkehren will, von Piraten entführt, lebt über Jahre als Sklave in Algier, wird freigekauft, verdingt sich in Andalusien als Steuereintreiber, landet dann im Gefängnis und beginnt dort, ein Buch zu schreiben, das wenige Jahre vor seinem Tod zum Bestseller avancieren wird – und nach seinem Tod zum Klassiker.

Nein, die Rede ist hier nicht vom Protagonisten eines etwas zu fantasievoll geratenen Abenteuerromans. Es ist, grob umrissen, der tatsächliche Lebenslauf des großen spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes, Autor des Don Quijote. Zu Recht gibt der Romanist Uwe Neumahr seiner Cervantes-Biografie den Untertitel Ein wildes Leben. Gar nicht wild, sondern sehr systematisch und akribisch setzt Neumahr darin aus den Bruchstücken, die gesichert über das literarische Genie bekannt sind, ein faszinierendes Bild zusammen – nicht nur eines verschlungenen Schicksals, sondern vor allem auch einer hochinteressanten historischen Epoche.

Miguel de Cervantes lebte von 1547 bis 1616 und war somit Zeitzeuge des spanischen Weltreichs auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber auch des dem äußeren Glanz von Beginn an innewohnenden Verfalls und des allmählichen  Niedergangs. Der Dichter war als zeitweiser Soldat oder als Staatsbediensteter immer wieder unmittelbar von historischen Entwicklungen berührt und blieb doch ein Randständiger. Fast bis ans Ende seiner Tage erfuhr er im Bestreben, in den Zirkel des akademischen Dichter-Establishments seiner Zeit aufgenommen zu werden, wiederholt Zurückweisungen. Von der Literatur leben konnte er wohl erst im Alter. Bis dahin war er auf Brotberufe angewiesen, beschritt eigentlich nie den geraden, vielleicht auch nicht immer den legalen Weg und profitierte vermutlich von einer guten Heirat –  von einer glücklichen Ehe allerdings konnte offenbar über lange Zeit nicht die Rede sein.

Cervantes‘ Lebensweg ist keineswegs so lückenlos dokumentiert, wie es der Curriculum eines heutigen Kulturschaffenden wäre. Man musste ihn sich aus diversen Dokumenten und Akten zusammenklauben, die doch manchmal nicht viel mehr verraten als einen der häufig wechselnden Aufenthaltsorte Miguel de Cervantes‘. Nicht unbedingt erleichtert wird die Rekonstruktionsarbeit dadurch, dass die Familie Cervantes auch bei Angaben gegenüber Behörden gerne mal dichterische Freiheit walten ließ, wie Neumahr klar macht. Und so ist die vorliegende Biografie voll von „wahrscheinlich“, „offenbar“, „dürfte“ und „müsste“. Neumahrs logische Ketten sind dabei aber immer nachvollziehbar und überzeugend. Die wohl belastbarste Quelle bleibt dabei Cervantes‘ literarisches Werk selbst, das viele biografische Rückschlüsse zulässt – die Neumahr stets mit der gebotenen Zurückhaltung und Einschränkung zieht.

Vor allem aber kann der Autor auf die profunde Kenntnis der spanischen Geschichte zurückgreifen. Und zwar nicht nur einer Geschichte von oben – die Chronologie der Herrscher, der Politik und der Schlachten -, sondern vor allem einer Geschichte von unten, vom spanischen Alltag im Siglo de Oro. Vor diesem plastisch gezeichneten Hintergrund erschließt sich viel von Cervantes‘ Lebensumständen scheinbar von allein – eine der großen Stärken dieses Buches. Neumahr führt dem Leser vor Augen, wie es war, im 16. und 17. Jahrhundert durch Rom und Neapel zu schlendern, ein Haus in Madrid oder der zeitweisen Hauptstadt Valladolid zu bewohnen oder sich als Autor mit der Obrigkeit und gerissenen Verlegern herumzuschlagen; auch, wie Chauvinismus und politisch gesteuerte Diskriminierung von Minderheiten bis hin zu Massenvertreibungen aussahen – manche Muster erkennt man leider bis heute wieder. Cervantes war dabei übrigens teils Opfer, teils machte er selbst kräftig mit.

Neumahr hat Cervantes‘ Leben bis ins Detail erforscht, und man merkt, dass er sein gesammeltes Wissen nun auch unbedingt an die Leserin und den Leser bringen möchte. Vereinzelt fragt man sich da beim Lesen schon mal, ob man das in allen Verästelungen so genau wissen wollte. Neumahr fördert freilich auch viele neue Aspekte zutage, diskutiert etwa ausgiebig die These, ob Cervantes – wie zu seiner Zeit schmähend, in der heutigen Genderforschung hoffnungsfroh immer wieder angedeutet – homosexuell war. Die Antwort? Nun, wohl weniger.

Vor allem aber schafft es der Biograf, uns über vier Jahrhunderte Entfernung Cervantes als Menschen nahe zu bringen, so schemenhaft er an mancher Stelle auch bleiben mag. Neumahr zeichnet den großen Autor als widersprüchlichen, beileibe nicht immer sympathischen Zeitgenossen, der sich unter manch widrigen Umständen durchs Leben schlagen musste und doch das Streben nach Höherem nie aus dem Auge verlor. Höchst berührend ist die Schilderung von Cervantes‘ Lebensende – wie er mit einer gewissen Gelassenheit und Souveränität dem Tod entgegengeht und doch bis zum Schluss voll Lebenshunger ist. Er hat noch eine Reihe von Büchern im Kopf, von denen er weiß, dass er sie nicht mehr wird schreiben können.

Es bleibt eine tragische Pointe der Literaturgeschichte, dass die Genialität und Vielschichtigkeit seines überdauernden Klassikers Don Quijote zu seiner Zeit verkannt blieb. Vieles andere, was das Publikum damals für hochwertiger hielt, ist dagegen heute nur mehr aus literarhistorischem Interesse für ein Fachpublikum relevant. Neumahr mag es noch so bedauern, dass sich in Deutschland heute niemand mehr um die Novelas ejemplares schert und die Entremeses nirgends aufgeführt werden – für mich liegt es auf der Hand, warum der zeitlos frische, wunderschöne Quijote das Werk ist, das Cervantes unsterblich macht, und alles andere in den Regalen verstaubt. Es reicht völlig, die Geschichte vom Ritter von der traurigen Gestalt zu lesen – und dazu diese profunde, die Augen für eine Epoche öffnende Biografie ihres Autors.

  • Uwe Neumahr, Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben, C.H. Beck, 394 Seiten, 26,95 Euro.

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