Eine intellektuelle Herausforderung und eine Provokation, der man nicht auf den Leim gehen sollte: So sehe ich Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung. Das Buch hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ist teils gar als Skandalbuch vermarktet worden, weil es auf den ersten Blick Islamophobie zu bedienen scheint. Es entwirft das Szenario einer nahen Zukunft, in der in Frankreich ein islamistischer Präsident an die Macht kommt und die Scharia einführt. Aber mit der Paranoia mancher „besorgter Bürger“ im AfD- und Pegida-Lager hat dieser kluge, philosophische, vielschichtige Roman rein gar nichts zu tun. Er zeichnet vielmehr das Bild einer Gesellschaft, die durch Sinnentleerung und Reduktion auf den Materialismus verletzlich und verführbar geworden ist, und weist damit weit über tagespolitische Debatten hinaus.
Diese Tiefe und Zeitlosigkeit ist vielleicht deshalb nicht gleich zu erkennen, weil der Roman verkleidet ist als pessimistische Prognose zur politischen Aktualität. Wir befinden uns im Jahr 2022. Bei der Präsidentschaftswahl sind die beiden etablierten französischen Parteien, Konservative und Sozialisten, ins Bodenlose abgestürzt. In der Stichwahl, die vor dem Hintergrund bürgerkriegsähnlicher Zustände stattfindet, stehen sich Marine Le Pen vom Front National und der charismatische, moderat auftretende Kandidat der Muslimbruderschaft, Mohammed Ben Abbes, gegenüber. Um eine Machtübernahme der Rechtspopulisten zu verhindern, gehen Republikaner und Sozialisten ein Bündnis mit den Islamisten ein und ebnen ihnen damit den Weg zur Macht. Ben Abbes suggeriert zunächst in vielen Politikfeldern Kontinuität, macht sich aber doch rasch an einen geistig-moralischen Umbau der Gesellschaft, islamisiert vor allem das Bildungswesen, drängt Frauen aus dem Berufsleben (und senkt damit die Arbeitslosigkeit), führt die Polygamie ein und treibt den Aufbau eines mediterranen islamischen Weltreichs voran, indem er nordafrikanische und arabische Staaten in die EU aufnimmt. Die französische Gesellschaft – teils geblendet, teils gelähmt, vor allem aber durch viel arabisches Geld korrumpiert – lässt alles widerstandslos geschehen: Es ist eine vollständige Unterwerfung.
Durch diese politischen Umbrüche begleitet der Roman den Ich-Erzähler François, einen Literaturwissenschaftler und Dozenten an der Sorbonne. Im Mittelpunkt seines geistigen Schaffens steht die Beschäftigung mit dem Autor Joris-Karl Huysmans (1848-1907). Privat schlittert er von einer oberflächlichen, aufs Sexuelle fixierten Beziehung in die andere – meist mit jungen Studentinnen, die nach spätestens einem Jahr lapidar erklären, jemand anderen getroffen zu haben. Mit Mitte 40 steht François in seinem Leben vor einer großen Leere. Die politischen Ereignisse verfolgt er ohne innere Beteiligung, doch sie beeinflussen sein Leben dann doch ganz unmittelbar. Seine derzeitige Freundin Myriam, eine Jüdin, wandert vor der Alternative eines entweder rechtsextremen oder islamistischen Frankreich nach Israel aus. Den Job an der Sorbonne verliert François zunächst und wird mit einer großzügigen Rente abgespeist. Dann aber umwirbt ihn der neue Rektor der Universität. Unter der Voraussetzung der Konversion zum Islam locken eine hochdotierte Professur und die Zuteilung mehrerer blutjunger Ehefrauen.
Anfang 2015 ist Unterwerfung erstmals erschienen. Jetzt, Ende 2017, hat sich die politische Voraussage darin bereits überholt. Die früher undenkbare Konstellation, dass es keine der etablierten Volksparteien in die Stichwahl schafft, ist 2017 schon fünf Jahre früher eingetreten, als es Houellebecqs Science-Fiction zu ahnen vermochte. Die vom Autor vorausgesetzte zweite Amtszeit François Hollandes blieb aus, und Stand heute scheint Marine Le Pen so ziemlich weg vom Fenster zu sein, sodass ihr Griff nach der Macht 2022 für den Moment eher unwahrscheinlich wirkt. So richtig Houellebecqs Annahme vom Zusammenbruch des traditionellen französischen Parteiensystems war, so wenig hatte er den Aufstieg einer neuen demokratischen, europafreundlichen Kraft in Person von Emmanuel Macron auf dem Schirm. Sei’s drum. Damit ist nur noch einmal bewiesen, dass der Wert von Unterwerfung nicht in der tagespolitischen Analyse liegt, der Roman zielt auch nicht darauf ab. Man kann Unterwerfung 2017 endlich losgelöst von der Aktualität lesen und hat den Blick frei auf die tiefergehenden Wahrheiten darin. Denn es handelt sich meiner Überzeugung nach um ein Werk, das die Zeit überdauert.
Dass Houellebecq weit mehr im Blick hat als ein kurzfristiges politisches Panorama Frankreichs, ist schon von daher unübersehbar, als die Auseinandersetzung mit Joris-Karl Huysmans breiten Raum einnimmt. Diese intertextuellen Bezüge könnten dem Leser bei näherer Beschäftigung bestimmt noch viele tiefere Bedeutungsebenen des Romans erschließen. Meinem eiligeren Blick zeigt sich die Gegenüberstellung mit einem Autor, den schon von über 100 Jahren eine Sinnentleerung der westlichen Welt quälte und den seine Suche nach verlorener Spiritualität in Richtung der Religion führte. Letztlich aber, so suggeriert es Houellebecqs Roman, war Huysmans Heimatfindung im Katholizismus auch damals schon mehr von Schein als Sein geprägt und letztlich eine Sackgasse – und keineswegs ein Weg, den der heutige westliche Mensch beschreiten kann, um zur vermissten Spiritualität und Transzendenz zu gelangen. Als François selbst für einige Tage ins Kloster geht, gibt ihm die Erfahrung rein gar nichts, er findet dort nichts anderes als Theatralik, leere Riten und mangelnden Komfort.
Houellebecq schildert eine Gesellschaft in einem nihilistischen Vakuum. Und in dieses Vakuum können kalt kalkulierende Verführer stoßen, die mit scheinbaren „Werten“, mit einer Pseudo-„Moral“ locken und, kombiniert mit materiellen Versuchungen und dem Herstellen einer oberflächlichen „Ordnung“ und Orientierung, die Menschen dazu bringen, ihre tatsächlichen, aber glanzlos gewordenen Werte über Bord zu werfen. Die von Houellebecq entworfenen Mechanismen beschreiben überzeugend den Aufstieg von Islamismus und Nationalismus. Beide demaskiert er freilich dabei, indem er die sich einander feindlich gerierenden Strömungen in ihrer erstaunlichen Nähe zueinander zeigt: Geistige „Anführer“ von Houellebecqs islamistischem Frankreich entstammen – vermeintlich paradox – der islamfeindlichen identitären Bewegung.
Die etablierten politischen Kräfte haben bei Houellebecq mangels eines eigenen geistigen Fundaments dem Aufstieg des Extremismus nichts entgegenzusetzen. Für die Vertreter der untergehenden, sich selbst aufgebenden politischen Klasse hat der Autor nur einige ironische Seitenhiebe übrig. Dem Triumph des intellektuell Grobschlächtigen steht damit nichts im Wege. Dem gibt Houellebecq mit Lust an der Provokation in Unterwerfung das Gesicht des Islamismus. Es lässt sich in unserer Welt aber leider noch in vielen weiteren Erscheinungsformen wiedererkennen.
- Michel Houellebecq, Unterwerfung, Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek, DuMont, 272 Seiten, 10,99 Euro; als E-Book: 9,99 Euro.
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