Wie konnte es dazu kommen, dass das vermeintlich perfekte Kindermädchen die beiden ihr anvertrauten Geschwister brutal ermordet hat? Der Roman Dann schlaf auch du stellt plakativ einen an Urängsten rührenden Kindsmord an den Anfang. Was folgt, ist aber keineswegs ein konventioneller Thriller à la Die Hand an der Wiege. Nicht wirklich zum anfänglichen Paukenschlag passend, entrollt der Roman vielmehr sehr klug und sensibel die Geschichte einer gesellschaftlichen Entfremdung. Die erklärt zwar nicht zwingend, warum aus der im eigenen Leben wie auch im Frankreich von heute abgehängten Nounou Louise gleich eine Mörderin werden musste. Doch das Gesellschaftsporträt, das die Autorin Leïla Slimani hier zeichnet, vermittelt vielleicht eine Ahnung davon, warum Menschen in andere Extreme abgleiten, sei es in Terrorismus oder Rechtsradikalismus.
Diese beiden Phänomene werden in Chanson douce – so der viel schönere Originaltitel – zwar mit keinem Wort erwähnt. Doch der Roman zeigt einen Ausschnitt aus einem Umfeld, in dem Angst, Frustration und Hass gedeihen – was sowohl spezifisch französische Probleme der Aktualität beschreibt, als auch sicher auf die ganze westliche Welt übertragbar ist.
Es geht um soziale Gräben in einem Land, das nach außen die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hochhält, in dem aber Menschen und Menschlichkeit auf der Strecke bleiben. Leïla Slimani macht die Ausgrenzung in ihrer Geschichte klugerweise nicht an der ethnischen Herkunft fest – darum geht es der Autorin, die selbst aus Marokko stammt, nicht. Stattdessen besetzt sie die Rollen entgegen dem Klischee.
Auf der (allerdings ebenfalls sehr brüchigen) Sonnenseite der Gesellschaft steht hier ein junges Pariser Paar: der Musikproduzent Paul und seine Frau Myriam, eine Juristin maghrebinischer Herkunft. Die beiden bekommen zwei Kinder, und als Myriam das Angebot erhält, in einer Anwaltskanzlei einzusteigen, beschließen sie, ein Kindermädchen einzustellen. In der etwa 50 Jahre alten Französin Louise glauben sie die perfekte Nanny gefunden zu haben. Nicht nur, dass die Kinder sie heiß und innig lieben. Die Nounou bringt auch die enge Altbauwohnung im 10. Arrondissement in Schuss, kocht, auch gern für Gäste, prächtig auf und bändigt die verwöhnten Wohlstandskinder.
Doch bald werden die Risse im Idyll sichtbar. Fast unmerklich schleicht sich ein Unwohlsein in die Geschichte ein, erst kaum greifbar, dann sich auswachsend zur wahren Beklemmung. Die Illusion, die Nounou könnte so etwas wie die zweite Mutter der Kinder und die beste Freundin der Eltern sein, erweist sich rasch als Heuchelei. Hat das bürgerliche Elternpaar ihre Angestellte nicht schon nach kalten, kapitalistischen Kriterien ausgewählt, etwa dass sie selbst keine Kinder haben darf, damit sie uneingeschränkt zur Verfügung steht?
Louise jagt dem Traum nach, sich im Heim ihrer Arbeitgeber selbst eine Art Nest zu bauen, eine Familie und ein Zuhause zu finden, das sie selbst nie hatte. Ihre eigene Lebenswelt ist trostlos. Sie ist Witwe, der gewalttätige Ehemann hat ihr nur Schulden hinterlassen, sie haust in einer armseligen Vorort-Wohnung, der Vermieter nutzt ihre Notlage skrupellos aus, um sich zu bereichern. Louise hat sich ein Leben lang untergeordnet, und im Bemühen, für ihre wohlsituierten Chefs unersetzlich zu sein, die Sorge um das Glück der eigenen Tochter vergessen.
Für Paul und Myriam will sie nun abermals unverzichtbar sein und in der Rolle des guten Geists der Familie aufgehen. Doch die betrachten die Nanny trotz allen demokratischen Gehabes letztlich doch nur als Angestellte und, halb unbewusst, von oben herab. Ja, man will ihr die Wohltat gönnen, sie in den Urlaub mitzunehmen. Was sollte sie auch schon anderes vorhaben? Ach ja, und auf diese Weise machen einem die Kinder in den Ferien auch keinen Stress. Ärgerlich nur, dass die Nounou nicht schwimmen kann und dies auch noch verschwiegen hat.
Und wie lästig und irritierend ist die kleinbürgerliche Sparsamkeit, die Louise im Haushalt durchzusetzen versucht. Myriam verbietet ihr, den Kindern Lebensmittel mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum zu geben. Louise holt ein angegammeltes gebratenes Hühnchen aus dem Müll und lässt die Kinder die Knochen feinsäuberlich abknabbern. Slimani versteht es vortrefflich, vom vermeintlich harmlosen Missverständnis zum befremdlichen Machtspiel das Schaudern des Lesers zu steigern.
Dass Louise ein furchtbar einsamer Mensch ist und zunehmend unter wirtschaftlichen Existenzängsten zu leiden hat, für solche Gedanken bleibt im durchgetakteten Leistungs- und Selbstverwirklichungs-Alltag von Paul und Myriam keine Zeit. Louise muss vor allem funktionieren. Fast ungläubig staunen sie, als sie einmal vom Auto aus Louise durch die Straßen von Paris laufen sehen. Ein Bild von einem Leben ihrer Nanny außerhalb ihrer eigenen Wohnung – das passte bislang nicht in die Vorstellungskraft des Arbeitgeber-Paars.
Slimani schildert die Geschichte von Louises gescheiterter Grenzüberschreitung betont rational. Erzählt wird in einfachen Sätzen im Präsens und – recht ungewöhnlich – im Perfekt, was die Sprache gleichzeitig unmittelbar macht und ihr eine unverrückbare Solidität verleiht. Die gelegentlichen poetischen Beschreibungen sind stets von einer Kühle durchdrungen.
Keinem der Beteiligten macht Slimani in ihrer sachlichen Schilderung moralische Vorhaltungen. Nicht dem Durchschnittspaar Paul und Myriam, das auch nur vor den Dilemmata vieler junger Familien steht und in dem vor allem Myriam sich zwischen den Erwartungshaltungen an eine moderne, emanzipierte Frau zwischen Beruf und Familie aufreibt. Auch nicht Louise, die kaum eine Chance hat, ihrer Opferrolle zu entkommen, die nach den Mechanismen unserer Gesellschaft eine ewig Ausgeschlossene bleibt – und dadurch am Ende zur Täterin wird. Wirklich sympathisch ist dabei keine der Figuren – nicht einmal das kleine Mädchen Mila, das ein narzisstisches Gör ist.
Nein, von diesem Chanson douce kann man sich als Leser nicht gemütlich einlullen lassen. Im Gegenteil: Es macht uns hellwach.
- Leïla Slimani, Dann schlaf auch du, Aus dem Französischen von Amelie Thoma, Luchterhand, 20 Euro.
Ich war gerade auf einer wirklich ganz wunderbaren Lesung von Leila Slimani, die mich für ihr Buch mehr eingenommen hat. Tolle Frau!
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O wie toll!
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Da wäre ich gern dabei gewesen. Vielleicht kommt sie ja auch bald mal nach München…
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