Ein untadeliges Buch, in jeder Hinsicht. Von der Form perfekt gestrickt wie das Rautenmuster auf dem Umschlag. Allerdings deutlich raffinierter, vielschichtiger, doppelbödiger – so wie der titelgebende Mann unter der Oberfläche auch alles andere als so fad-fehlerlos ist, wie es das Adjektiv „untadelig“ vermuten lässt.
Jane Gardams Ein untadeliger Mann hat so viele Vorzüge, dass ich mich kaum entscheiden kann, mit welchem ich anfangen soll. Zunächst einmal: Der Roman greift eine sehr interessante Thematik auf, die zumindest mir nie zuvor untergekommen war, nämlich das Schicksal der sogenannten Raj-Waisen. Das sind Kinder von britischen Kolonialbeamten, für die die Eltern entscheiden, dass sie lieber nicht unter den Bedrohungen tropischer Krankheiten, fremdartiger Sitten und lückenhafter Infrastruktur etwa in Südostasien aufwachsen sollten, sondern lieber bei Pflegefamilien in Großbritannien.
So wird auch der Protagonist von Ein untadeliger Mann, Edward Feathers, als Vierjähriger aus Malaysia nach Wales geschickt. Die traurigen Umstände, die ihn offenbar mit vielen Raj-Waisen verbinden: Die gewaltsame Verpflanzung in ein fremdes Umfeld wird zur Grundlage eines lebenslangen Traumas. In Edwards Fall sogar auf besonders grausame Weise, denn er landet bei einer lieblosen, schwer gewalttätigen Pflegemutter.
Stark beeindruckt hat mich an Jane Gardams Roman aber vor allem die durchdachte Konstruktion, die von wahrer Könnerschaft zeugt. Die Geschichte des Edward Feathers wird vom Ende seines Lebens aus erzählt. Auf seine alten Tage lebt er, frisch verwitwet, allein auf dem Land in England. Nach außen wirkt der elegante, mit 80 Jahren noch immer gut aussehende Rentner wie der Inbegriff des betagten Gentleman, der sich mit einer Karriere als Kronanwalt in Hongkong hohes Ansehen erworben hat und nun scheinbar friedvoll auf ein ohne größere Widerstände verlaufenes, geradliniges Leben zurückblickt.
Dass sich hinter dieser „untadeligen“ Fassade Untiefen verbergen, enthüllt Jane Gardam nach und nach in Rückblenden, die in eine dramatisch verlaufene Kindheit und Jugend zurückführen, geprägt von Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Jeden Menschen, bei dem er vorübergehend ein Zuhause zu finden hofft, verliert Edward wieder. Zuletzt ist es das Alter, das Edward von allem zu trennen scheint. Als Vertreter einer untergegangenen Epoche, des British Empire, wirken er, aber auch seine Frau Betty und seine Cousinen wie Fremde im modernen Großbritannien.
Die Zeitsprünge und der Wechsel zwischen den Erzählebenen verlangen dem Leser eine gewisse Konzentration ab, sind bei Jane Gardam aber ganz sicher kein Selbstzweck aus literarischer Eitelkeit. Vielmehr ist ihre Erzählweise nötig, um zwingend und doch immer wieder überraschend die Kontinuitäten in Edwards Leben nachvollziehbar zu machen. Die Vergangenheit ragt auch über Jahrzehnte hinweg in die Gegenwart. Es ist sehr stimmig, wie Jane Gardam alle Fäden wieder aufgreift und zusammenführt (um mal im Bild des Strickpullis zu bleiben ;-)). Daraus entsteht ein Gesamtbild, das man tatsächlich erst mit den letzten Seiten in seiner ganzen Dimension überblicken kann – und dann einfach bewundern muss.
Noch vollständiger und facettenreicher wird das Bild vermutlich, wenn man die zwei weiteren Bände der Trilogie hinzunimmt, zu der Ein untadeliger Mann gehört: Eine treue Frau und Letzte Freunde.
Großartig ist außerdem Jane Gardams feiner Humor. Sie kann wie aus dem Nichts ganz trocken und treffgenau kleine ironische Stiche setzen, ohne dabei sarkastisch zu werden.
So etwas ist natürlich very british, wie überhaupt der ganze Roman. Auch wenn die Handlung viel Dramatik birgt: Große äußerliche Gefühlsausschläge darf man sich weder von den Figuren noch im Erzählstil erwarten. An der Oberfläche bleibt doch alles sehr kontrolliert, wobei man weiß, dass die „steife Oberlippe“ über viele innere Stürme hinwegtäuscht. Trotzdem kann ich verstehen, wenn Leser mit dem Roman nicht gleich warm werden. Auch sind manche Motive sehr spezifisch britisch. Kolonialismus und Monarchie bilden einen Hintergrund, mit dem man als deutscher Leser vielleicht etwas fremdelt. Zwischen den ersten beiden Kapiteln, die mich gleich begeistert haben, und dem furiosen und berührenden Schluss gab es – für meinen Geschmack – auch mal kleinere Durststrecken.
Doch ich kann nur raten: auf alle Fälle dranbleiben, denn das Ende verleiht allem wieder einen Sinn.
- Jane Gardam, Ein untadeliger Mann, Hanser Berlin 2015, 352 Seiten, 22,90 Euro; jetzt auch als Taschenbuch erhältlich bei dtv, 12,90 Euro.
Ich hab die ganze Reihe gelesen. Das war mein liebstes. Es ist wirklich so erzählt das man richtig eintauchen kann.
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Ich bin schon gespannt auf die beiden anderen Bände. Sie lohnen sich bestimmt auch, oder?
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Doch schon, ich hätte ja perönlich gern nochmehr über das Thema „Kolonien“ gelesen.
Der 2. Teil war ok, der 3. wieder etwas besser, nach meinem Geschmack.
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