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Perfektion. Das ist auch schon alles, was man diesem Buch vorwerfen kann.

Kindeswohl ist ein kurzer Roman, den ich, fast gegen meinen Willen, gebannt gelesen habe. Zu interessant sind die Fragen, die er, speziell als intelligenter Justizkrimi, aufwirft. Die Hauptfigur Fiona Maye hat als hochrangige Familienrichterin immer wieder in schwierigen Fällen zu entscheiden. Sollte man siamesiche Zwillinge trennen, wenn eines der Kinder, das schwer behinderte, dabei getötet, das andere, relativ gesunde, gerettet wird und ohne Operation beide nicht lebensfähig sind? Darf ein jüdisch-ultraorthodoxer Vater verhindern, dass seine geschiedene Frau den Töchtern eine höhere Schulbildung angedeihen lässt? Solche Fragen werden im Roman sehr klar, verständlich, aber nie vereinfachend behandelt und durchdacht. Ganz rational, ohne Vorurteile und Klischees trifft die Richterin vor allen moralischen Dilemmata ihr Urteil. Sie ist es, die zwischen den Werten beziehungsweise Rechtsgütern, die auf dem Spiel stehen, abzuwägen weiß: persönliche Freiheit, Moral, religiöse Toleranz – und eben, an vorderster Stelle, das Kindeswohl.

So auch im Fall von Adam. Der fast volljährige junge Mann droht an Leukämie zu sterben. Eine Bluttransfusion könnte ihn retten, doch die lehnen er und seine Eltern ab. Aus religiösen Gründen. Sie sind Zeugen Jehovas. Die Richterin steht vor der heiklen Frage, ob der Staat Adam gegen seinen Willen die lebensrettende Behandlung aufzwingen kann.

Für Fiona wird die Causa Adam mit der Zeit zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Sie ist es gewohnt, mit ihren Urteilen über das Leben von Menschen zu entscheiden und dabei nichts anderes zu verkörpern als das Gesetz. Eine private Verantwortung entsteht nicht. Dieses Mal ist es anders. Zumal die Bearbeitung der Angelegenheit mit einer Ehekrise der Ende-50-Jährigen zusammenfällt. Ihr Mann hat sie sozusagen um Erlaubnis für eine Affäre mit einer Jüngeren gebeten. Und das sehr spezielle Verhältnis zu Adam rührt an einem wunden Punkt in Fionas Leben, ihrer Kinderlosigkeit.

Ian McEwan ist ein Könner, der sehr einnehmend, subtil und klug erzählt. Als Leser will man immer wissen, wie es weitergeht, und der Autor belohnt die Neugier mit überraschenden, aber nie erzwungen wirkenden Wendungen. Im Vergleich zum Adam-Handlungsstrang ist lediglich zu sagen, dass die Geschichte der Ehekrise etwas weniger vertieft und überzeugend ist und doch ziemlich untergeht.

Kann man irgendetwas gegen dieses Buch sagen? Eigentlich nicht. Und gerade das könnte der Punkt sein. Wenn man das überhaupt einem Roman vorwerfen kann, dann ist mir dieser eine Spur zu glatt, zu widerstandslos lesbar. Und das gesellschaftliche Ambiente, in dem er angesiedelt ist, hat mir persönlich etwas zu viel Hochglanz. Unter einer Richterin am High Court ging es wohl nicht?

Das alles heißt nicht, dass es dem Roman an Tiefe oder Nuancen fehlen würde. Und doch spüre ich da eine gewisse Kühle. Trotzdem kann ich ihn sehr empfehlen: als höchst anregend, wenn auch nicht aufwühlend.

  • Ian McEwan, Kindeswohl, Diogenes, 224 Seiten, 12 Euro (eBook: 9,99 Euro).

 

2 Kommentare zu “Ian McEwan, Kindeswohl

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