Die Sprache: nichts Besonderes. Die Handlung: purer Alltag. Spannungskurve: nicht vorhanden. Wer sonst außer Colm Tóibín könnte aus diesen Zutaten einen so grandiosen Roman machen wie Nora Webster?
Mit der leisen Schilderung des Wegs einer frisch verwitweten vierfachen Mutter im Irland der 1960er-Jahre in ein eigenständiges Leben scheint der irische Autor ganz bei sich selbst angekommen zu sein; bei einem Erzählen nämlich, das seine Spannung aus dem genauen Hinsehen und dem vollständigen Hineinversetzen in eine Figur bezieht und nicht aus irgendeiner Form von Dramatik. Das scheinbar banale, stinknormale Leben scheint hier als das große Abenteuer auf, das es für uns alle ist.
Wie fühlt sich eine Frau Mitte 40, die ihren Mann, die Liebe ihres Lebens, durch eine qualvolle Krankheit begleitet und am Ende verloren hat? Colm Tóibín muss das an keiner Stelle ausformulieren. Worte wären immer nur eine unzureichende Annäherung. Stattdessen zeigt uns der Autor nur ganz flach ihren Alltag. Sie bekommt Kondolenzbesuche. Sie macht mit ihren zwei Söhnen, die noch bei ihr im Haus leben, einen Ausflug nach Dublin. Sie sitzt abends in ihrer Wohnung. Wie sie die leere Zeit allein gestalten soll, wird sie erst noch lernen müssen. Ohne dass an der Oberfläche etwas davon zu sehen wäre, erlebt der Leser all die stillen Stürme mit, die in Nora Webster toben. Sie selbst kann ihre Gefühle nicht artikulieren. Der Autor maßt es sich auch nicht an. Er lässt sie den Leser einfach miterleben. Das ist große Kunst. Magie.
Zwingende Voraussetzung für diese Magie ist, dass sich der Erzähler ganz und gar auf die Perspektive seiner Hauptfigur konzentriert. Als Leser stecken wir in ihrer Haut. Was dagegen in den anderen vorgeht, bleibt oft rätselhaft. Natürlich kann sich Nora Webster in ihre Kinder hineindenken, sie hat eine intuitive Verbindung zu ihnen, ist sensibel. Doch was denkt der stotternde pubertierende Donal wirklich? Was lässt Conor, den Jüngsten, immer so besorgt sein? Nora weiß es schlicht nicht, und auch der Leser kann es höchstens erahnen. An den entscheidenden Punkten sagen die Figuren dieses Romans meistens: nichts. Gerade Nora setzt das Schweigen facettenreich ein. Als Waffe, als Beleidigung, als Selbstverteidigung, aber auch als sanftes Nachgeben, liebevolles Nicht-Insistieren, als Raum-Lassen für den anderen. Und oft genug hat sie ganz einfach keine Ahnung, was sie sagen soll. Dass auch der Roman vieles nicht ausspricht, lässt wunderbar viel Raum, in dem sich Emotionen ausbreiten und an Macht gewinnen können.
Die starke Konzentration auf die Titelfigur impliziert, dass sie mit Abstand die plastischste Figur ist, während die anderen teils etwas blass wirken. Insbesondere Noras Töchter, die für Schule und Studium schon außer Haus sind, bleiben – vielleicht die einzige kleine Schwäche – relativ konturlos.
Nora Webster selbst wird dafür in der Kritik zu Recht als markante, unvergessliche Frauenfigur der Literatur beschrieben. So nahe sie uns kommt – sympathisch ist sie nicht unbedingt. Oder zumindest nicht immer. Gegenüber ihren Mitmenschen legt sie bisweilen eine widerborstige Art an den Tag, stößt vor allem ihre jüngeren Schwestern vor den Kopf. Doch Nora Websters Weigerung, sich so zu verhalten, wie andere es von ihr erwarten, ist auch großartig. Wenn eine Nachbarin auf der Straße eine spitze Bemerkung über Noras frisch gefärbtes Haar und die allzu moderne Frisur loslässt, weist sie sie mit einer schlagfertigen Antwort in ihre Schranken. Am Arbeitsplatz lässt sie sich das Mobbing ihrer neurotischen Vorgesetzten nicht gefallen. Die Eitelkeit der emporgekommenen Unternehmersgattin lässt Nora ins Leere laufen. In solchen Situationen kann man ihr innerlich nur applaudieren. Bei anderen Gelegenheiten denkt man sich: Mein Gott, Nora, sei doch mal ein bisschen nett.
Ist Nora Webster ein Emanzipationsroman? Mit einer Heldin der Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung haben wir es hier sicher nicht zu tun. Das Wort Emanzipation würde Nora Webster wohl nicht in den Mund nehmen. Berufstätig wird sie, weil sie Geld verdienen muss. Indem sie ihren persönlichen Interessen – dem Hören von klassischer Musik und dem Singen – nachgeht, nutzt sie nicht Freiräume, die nach dem Tod ihres Mannes entstanden sind, sondern füllt eine Leere. Oft ist sie sehr passiv, lässt sich treiben. Dann wieder überrascht sie mit ihrer Entschlossenheit – auch der Entschlossenheit, ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Nora Webster wird zu einer unabhängigen Frau mit eigenem Leben. Weil sie muss, weil es praktische Notwendigkeit ist, aber auch immer mehr, weil sie will.
Der Roman begleitet Nora durch drei Jahre Leben. Ein Leben, überwacht und behütet von einer irischen Kleinstadt. Ohne dass es dramatische Höhepunkte gäbe, halten die alltäglichen Begebenheiten und Herausforderungen das Interesse des Lesers immer bei der Stange. Feiner Humor und skurrile Figuren – von der schwatzhaften und mit mehreren Männern jonglierenden Bürogenossin und Unternehmerstochter bis zur ehemaligen Nonne, die Noras fordernde Gesangslehrerin wird – sorgen für genügend Leichtigkeit in der Schwere von Noras Trauerarbeit. So liest man immer gerne und mit Interesse weiter und würde am Ende am liebsten noch ein Stück weiter mit Nora gehen, auf ihrem Weg zu sich selbst.
- Colm Tóibín, Nora Webster, Hanser, 384 Seiten, 26 Euro.
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Tóibín wollte ich auch schon immer mal lesen. Gibt es den perfekten Einsteigerroman? Ist es vielleicht sogar dieser? Klingt jedenfalls vielversprechend.
LG Bookster HRO
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Da kann ich Dich nur ermutigen. Tóibín ist einer meiner absoluten Lieblinge! „Nora Webster“ ist mit am besten und eigentlich der Inbegriff dessen, was ich an Tóibín gut finde. „Brooklyn“ ist auch sehr gut, hat etwas mehr an eigentlicher Handlung zu bieten und ist daher sicher auch als Einstieg zu empfehlen. Ich selbst habe mit „Portrait des Meisters in mittleren Jahren“ angefangen und halte es immer noch für DAS Meisterwerk von Tóibín.
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