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Man sollte das Buch schnell lesen, bevor es zu spät ist. Denn kaum ein anderer Science-Fiction-Roman wird wohl so schnell überholt sein wie dieser. Schon zwei Jahre nach Erscheinen ist deutlich zu sehen, wie sich unser Alltag in der Zwischenzeit rasant auf Dave Eggers Dystopie Der Circle zubewegt hat. Und schon bald könnte die Realität die Fiktion abgehängt haben.

Ein kleiner Dialog hat mir erst vor wenigen Tagen klar gemacht, wie treffend Eggers‘ als Zukunftsszenario verkleidete Beobachtungen der Gegenwart sind. Ich interviewte eine Gruppe junger Leute zwischen 18 und 20 über das Handyspiel „Pokémon Go“. Ob es ihn denn nicht störe, dass er beim Spielen dem Nintendo-Konzern Zugriff auf seine  Geodaten einräumt und damit die Erstellung eines vollständigen Bewegungsprofils ermöglicht, fragte ich einen. Nein, meinte er, er führe schließlich ein offenes Leben. „Es juckt mich nicht, wenn jeder weiß, wo ich gerade bin.“ Vollständige Transparenz. Das Ideal des Circle. Es kommt eine Generation, die so etwas nicht mehr hinterfragt.

Das Neuartige an Der Circle als Science-Fiction-Roman ist, dass das geschilderte Szenario unserem Hier und Heute so ähnlich ist. Eigentlich beschreibt Dave Eggers in seinem in der nahen Zukunft angesiedelten Roman nur Trends, die längst vorhanden sind. Er dreht sie lediglich ein paar (alles andere als unwahrscheinliche) Umdrehungen weiter.

Es geht um die Datengier von Großkonzernen, perfide verkauft als Fortschritt für die Menschheit, als Garantie für absolute Sicherheit, Gleichheit, Offenheit und Transparenz. Der Circle ist ein Unternehmen, das alle Dienste und Daten von Facebook, Twitter, Google und Co. gebündelt hat und beständig neue Strategien zur Rundum-Überwachung des Individuums entwickelt – zu dessen eigenem Wohl, versteht sich. Und während der Einzelne scheinbar ständig basisdemokratisch eingebunden ist, verliert er zusehends die Kontrolle über das eigene Leben. Während jeder glaubt, mit der ganzen Welt vernetzt zu sein und nach Liebe und Aufmerksamkeit der Community geifert, gehen wahre menschliche Bindungen den Bach runter.

Man mag es als wohlfeil und etwas platt bezeichnen, dass Egger diese ganz offensichtliche Entwicklung unserer Gesellschaft thematisiert und kritisiert. Aber es hat vor ihm eben noch kein anderer in einem so breitenwirksamen Roman getan. Und dringend nötig ist es allemal, denn der Widerstand gegen die Beschneidung der persönlichen Freiheit und den Weg in den Datentotalitarismus ist rar – siehe oben.

Eggers hat eins der großen Themen unserer Zeit aufgegriffen. Hier schreibt jemand etwas, das absolut relevant, zeitgemäß und auf der Höhe der Lebenswirklichkeit ist. Tweets, Posts und Streams (auch wenn sie im Circle-Zeitalter anders heißen) waren im Genre des Romans selten so natürlich und selbstverständlich ein wesentlicher Teil der Handlung.

Treffend ist auch Eggers‘ Darstellung der Arbeitswelt, insbesondere der Tendenz zur Entgrenzung, zur Vereinnahmung des ganzen, auch des privaten Menschen und zur Messbarmachung jedweder Leistung mit den Mitteln der Technik – abermals unter der geheuchelten Begründung der Fürsorge für den Mitarbeiter. Was wird einem nicht alles an Anforderungen, Leistungsdruck und Überwachung untergejubelt – mit den freundlichen Worten, diese und jene neue technische Möglichkeit erleichtere die Arbeit. Oder es mache ja soooo großen Spaß, ständig und auf alles Feedback in Zahlen zu bekommen: soundso viele Klicks, Views, Shares.

Also: Das Thema ist die Stärke des Romans. Nach anderen literarischen Kriterien ist er weniger spektakulär. Die Geschichte ist vollkommen konventionell und routiniert erzählt. Der Plot ist schlicht und entwickelt keinen echten Spannungsbogen. Die Handlung ist eher seriell aufgebaut: Eggers entwirft immer neue Spielarten des digitalen Daten-Wahnsinns – was meistens durchaus kurzweilig zu lesen ist.

Die Hauptfigur Mae treibt den Leser in ihrer Kritiklosigkeit und Unreflektiertheit als willige Vollstreckerin, die beim Circle Karriere macht, bisweilen in den Wahnsinn. Und auch sonst wirkt die im Roman geschilderte (fast) ungeteilte Begeisterung der Menschheit für jeden neuen Angriff der unersättlichen Datenkrake nicht ganz nachvollziehbar. Können denn so viele Menschen so naiv und verblendet sein? Na ja, wahrscheinlich schon. Aber wenigstens die Protagonistin hätte doch etwas nuancierter und differenzierter gezeichnet sein dürfen. Ein Hauch von Zweifel hie und da – bei Mae, aber auch was die ganze Haltung des Romans betrifft – hätte dem Buch gut getan.

Insgesamt kommt Der Circle als professioneller, für Massenwirksamkeit ausreichend schlichter, leicht konsumierbarer, aber doch intelligenter, stimmiger literarischer Blockbuster daher, der den Leser mehr als 500 Seiten lang bei Laune hält. Nicht das schlechteste Mittel, um eine (wenn auch vorhersehbare) Botschaft an viele Leser zu bringen.

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